GIESSEN - (ebp). Wenn der Partner oder das Kind psychisch erkrankt, gerät oft auch das eigene Leben aus den Fugen. Angehörige fühlen sich überfordert und hilflos oder wissen nicht, wie sie mit der Krankheit und ihren Eigenarten umgehen sollen. Unterstützung finden sie in der 1994 gegründeten "Angehörigengruppe Mittelhessen". "Wir wollen den Angehörigen, die ja einen Großteil der Versorgungslast tragen, nach außen eine Stimme geben", erklärt die Vereinsvorsitzende Jutta Seifert. Einmal im Monat trifft sich die Gesprächsgruppe. Hier kann im geschützten Rahmen ausgesprochen werden, was sich viele im Alltag nicht trauen. Denn noch immer würden Angehörige sich scheuen, eine Krankheit wie Schizophrenie offenzulegen, da sie eine Stigmatisierung fürchten, so Seifert.
Gewalttaten von offenbar psychisch kranken Tätern, wie dem Amokläufer von München, würden bestehende Vorurteile noch verschärfen und die jahrelange Anti-Stigma-Arbeit zunichte machen. Dabei sind psychische Erkrankungen alles andere als eine Seltenheit: "Depression ist eine Volkskrankheit wie Herzkreislauferkrankungen", sagt Seifert. Während über einen Herzinfarkt aber zumeist offen gesprochen wird, sei das bei psychischen Erkrankungen nicht der Fall.
Mehr als 200 Angehörige haben mittlerweile an der Gesprächsgruppe teilgenommen. Manche kommen nur einmal, andere über Jahre. Auch Ärzte und Mitarbeiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sind anwesend, um zu Beginn des Treffens fachliche Fragen zu beantworten. Die anschließenden Gespräche drehen sich um den Umgang mit dem Erkrankten, Diagnosen oder die Wirkung von Medikamenten. Aber auch Erfahrungen mit Ärzten und Kliniken werden ausgetauscht.
Die Angehörigengruppe ist "ein wichtiges Korrektiv" im Alltag der Klinik, lobt Psychiatriechef Prof. Bernd Gallhofer. Die behandelnden Mitarbeiter erhielten so Anregungen und konstruktive Kritik: "Das hilft uns nicht einäugig zu werden". Jedoch habe auch die Klinik erst lernen müssen, mit den Angehörigen zusammenzuarbeiten, räumt Gallhofer ein. Das gelinge mittlerweile aber sehr gut, der Umgang sei herzlich und offen: "Die Angehörigen sind ein Bestandteil der therapeutischen Kette. Es ist daher wichtig, dass sie mit uns auf Augenhöhe stehen."
Die Nähe zwischen Angehörigen-gruppe und Klinikteam spiegelt sich auch in den neuen Räumlichkeiten des Vereins wieder. Nach dem Neubau der Psychiatrie hat die Klinik dem Treffpunkt ein neues, sonnendurchflutetes Büro im zweiten Stock ("auf der Chefetage") zur Verfügung gestellt. "Sehr zufrieden" zeigt sich Jutta Seifert angesichts des neuen Büros. Die räumliche Nähe zur Klinik sei insbesondere für die Angehörigen von Ersterkrankten ein Vorteil. Denn deren Gesprächsbedarf sei besonders hoch.
Dass die "Angehörigengruppe Mittelhessen" seit über 20 Jahren Bestand hat, führt die Vereinsvorsitzende auch auf die ärztliche Expertise zurück. Es gebe ein gutes Vertrauensverhältnis zu Oberarzt Dr. Bernd Hanewald und seinen Mitarbeitern. Gleichzeitig könne die Gruppe Krankheiten in einer "Sprache erklären, die jeder versteht" und auch mal deutliche Worte finden, wie es ein Profi nicht könnte. "Wir sind zwar Profis auf dem Gebiet der Krankheit, aber wir sind auch Lernende" gab Hanewald zu bedenken. Den Umgang mit dem Erkrankten lerne man als Arzt zunächst durch das Lehrbuch und nicht am eigenen Leib: "Wir sind daher sehr froh über die Erfahrungswerte aus dem Alltag der Angehörigen".
Regelmäßige Treffen
Die Gesprächsgruppe für Angehörige trifft sich jeweils am zweiten Dienstag im Monat um 17.30 Uhr im Patienten-Café der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Klinkstraße 36, Raum 3.118). Sprechzeiten finden am selben Tag zwischen 15.30 und 17.30 Uhr in Raum 2.214 statt. Weitere Termine können unter 0151/548 77 805 oder unter kontakt@angehoerige-mittelhessen.de vereinbart werden.
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