Zwischen "Eingeborenen" und ihren Besuchern: Beobachtungen von Götz Eisenberg bei einer Exkursion in den Dannenröder Forst.
Von Götz Eisenberg
Beeindruckende Holzhäuser wie diese "Trutzburg" haben die Aktivisten im Dannenröder Forst errichtet. Foto: dpa
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GIESSEN - Nachdem ich in letzter Zeit viel über die Besetzung des Dannenröder Forstes gehört hatte, ergab sich unverhofft eine Gelegenheit, den Wald zu besuchen. Ein Freund, der Schauspieler, Regisseur und Musiker ist, war eingeladen worden, auf der Bühne auf der Versammlungswiese zu spielen. Zwei Brüder, die ich aus alten Sponti-Zeiten kenne, nahmen uns mit. Die Tochter des einen gehört zu den Besetzerinnen und lebt seit einem Jahr im Wald. Heute fliegt man nicht mehr zu Hause raus, wenn man so etwas macht, sondern erfährt jede nur erdenkliche Unterstützung durch die Eltern. Man könnte auch sagen: Die rebellischen Kinder sind die Delegierten ihrer Eltern, die ehemals auch rebellisch waren, nun aber in die Jahre gekommen und ruhiger geworden sind.
Über die Autobahn
Berufliche Verpflichtungen und privates Kleineigentum hängen den Alten wie Mühlsteine an den Hälsen, steife Glieder und Gewichtszunahme tun ein Übriges. Mit 60 oder 70 Jahren erklimmt man nicht mehr so leicht ein Baumhaus. So fuhren vier ältere Herren am Sonntagmittag über die Autobahn und dann über die Dörfer nach Dannenrod. Ein bisschen verrückt, über die Autobahn in ein Protestcamp zu fahren, das sich der Verhinderung eines Autobahnbaus verschrieben hat. Unser Leben ist gepflastert mit solchen Widersprüchen.
Gegen 14 Uhr trafen wir ein. Es nieselte und war empfindlich kühl. Bei angenehmerem Wetter wären sicher noch mehr Menschen gekommen - so waren es circa tausend, die sich ein paar Tage vor dem angekündigten Beginn der Rodungen eingefunden hatten, um ihre Sympathien für die Besetzer zu bekunden. Christian beschloss, die Bühne in Augenschein zu nehmen, auf der, als wir ankamen, gerade noch eine Band spielte, die "Strom & Wasser" heißt und aus Kiel angereist war. Wir anderen wollten in den Wald gehen und uns anzuschauen, welche Widerstandsstrukturen die Besetzer aufgebaut haben.
Wir trafen einen Freund, dessen Sohn seit Monaten im Wald lebt und der selbst beinahe jedes Wochenende hier verbringt. Er erklärte sich bereit, uns zu führen und bestimmte neuralgische Punkte zu zeigen. Auf den Wegen waren überall kleine symbolische Barrikaden errichtet. Auf Kreuzungen standen sogenannte Tripods, in deren Spitze sich Menschen wie in einen Gleitschirm einhängen, um deren Beseitigung zu verzögern. Man möchte es der Polizei so schwer wie möglich machen, zu den Baumhäusern vorzudringen, die dort stehen, wo die Autobahntrasse gebaut werden soll. Sie befinden sich teilweise 25 Meter über dem Waldboden. Vermummte Besetzer und Besetzerinnen schwebten an Seilen herab oder klommen nach oben. Die ganze Szenerie erinnerte mich an den "Aguirre"-Film von Werner Herzog, in dem sich Eingeborene geisterhaft durch den Dschungel bewegen und gegen die vordringenden spanischen Kolonisatoren kämpfen. Ins Gespräch mit den "Eingeborenen" kamen wir nicht. Das Verhältnis zu den Besuchern scheint ambivalent zu sein: Einerseits nerven sie, andererseits braucht man sie als Schutzschild gegen die drohende Räumung. Solang der Wald voller "bürgerlicher" Besucher und Sympathisanten ist, wird die Polizei es vielleicht nicht wagen, gewaltsam gegen die Besetzer vorzugehen.
150 bis 200 Menschen, die sich Aktivisten nennen, leben hier dauerhaft, teilweise bereits seit Monaten. Etliche von ihnen sind aus dem Hambacher Forst hierher gezogen, nachdem dort die weiteren Rodungen durch Gerichte gestoppt worden waren. Die Aktivisten haben inzwischen rund 60 Baumhäuser und noch einmal so viele Plattformen gebaut. Sie leben in sieben sogenannten "Barrios", die sie mit fantasievollen Namen versehen haben. Die einzelnen Dörfer sind durch ein System von Wegen und Pfaden miteinander verbunden. Es existiert eine "Küche für alle", die eine vegane Ernährung sicherstellt. Die Lebensmittel stammen aus Spenden oder werden "containert", das heißt aus von Läden und Supermärkten weggeworfenen Lebensmitteln herausgesucht.
Direkte Demokratie
Die Bewohner der Barrios praktizieren eine Form von direkter Demokratie. Im Kampf gegen den Bau der Autobahntrasse sollen zugleich die Konturen einer neuen, freien Gesellschaft erkennbar werden. Für einige ist das zu einer dauerhaften Lebensform geworden und so etwas wie Heimat, für andere ist es nur eine transitorische Station in ihrer Biografie. Heimat ohne die alten Aufladungen mit Blut und Boden, sondern als Kampfbegriff. Heimat ist nicht das, was wir von den Vätern und Müttern ererbt haben, sondern etwas im Kampf erst Herzustellendes. Ein Geflecht aus solidarischen Beziehungen, die sich im gemeinsamen Alltag und im Widerstand herausbilden.
"So zumindest die Utopie", erklärt Rainer, unser Guide durch den Wald. "Im Alltag gibt es naturgemäß auch Reibereien und Konflikte, aber das kennt ihr ja alle aus der Geschichte der linken Bewegung zu Genüge." Rainer zeigt uns wirklich beeindruckende Baumhäuser, die hoch oben in den Baumkronen schweben. Keiner von uns alten Säcken würde da hinaufgelangen, es sei denn man würde ihn mit einem Flaschenzug hochhieven.
Nach gut zwei Stunden gelangten wir zurück auf den Versammlungsplatz. Christian spielte etwa eine Dreiviertelstunde Stücke von Rio Reiser und Gerhard Gundermann. In der einsetzenden Dämmerung fuhren wir nach Hause. Für uns war es auch ein Ausflug in die eigene Vergangenheit gewesen und so war uns ein wenig wehmütig ums Herz. Wir bewundern den Mut und das Durchhaltevermögen der jungen Leute, denen zumindest unsere Sympathien gehören, wenn wir schon selbst unsere gealterten Ärsche nicht mehr hochkriegen. Wir sollten uns stets die Warnung des englischen Schriftstellers John Berger vor Augen halten: "Der Tod tritt ein, wenn das Leben nichts mehr hat, das es zu verteidigen gibt."
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Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er schreibt in unserer Zeitung regelmäßige Kolumnen unter dem Titel "Unser absurder Alltag".