Der israelische Schriftsteller David Grossman erzählt in seinem neuen Roman packend von einem dunklen Familiengeheimnis: "Was Nina wusste".
Von Björn Gauges
Ließ sich bei seinem neuen Buch von einem realen Schicksal inspirieren: David Grossman. Foto: dpa
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Wie prägend der Einfluss von Geschichte sein kann, davon erzählt kaum jemand so intensiv und packend wie David Grossman. Immer wieder hat er sich in seinen Romanen mit den dramatischen Geschehnissen in seinem Heimatland Israel auseinandergesetzt, die das Leben einzelner Menschen komplett aus der Bahn werfen. Etwa in dem von der Kritik gefeierten Buch "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", während dessen Entstehung Grossmans Sohn Uri 2006 als Soldat bei einem Militäreinsatz im Libanon starb. Auch in seinem neuen Roman "Was Nina wusste" zieht der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Friedensaktivist einen weiten Bogen, der Zeitgeschichte mit individuellen Schicksalen verbindet. Diesmal ist es allerdings eine weit zurückliegende Tragödie jenseits der israelischen Landesgrenzen, die existenzielle Spätfolgen sichtbar macht.
Dafür hat sich Grossman des realen Schicksals der Kommunistin Eva Panic-Nahir angenommen, die 2015 starb und in Jugoslawien für ihren Mut und ihre Stärke gerühmt wird. Der Schriftsteller hat diese Frau getroffen, mit ihrer Einwilligung die fiktive Vera nach ihrem Vorbild entworfen und mit einem fiktiven Familienporträt verknüpft. So trägt die jüdische Kroatin hier ein dunkles Geheimnis mit sich herum, das erst im Verlaufe des Romans enthüllt wird und dabei Tiefenschichten freilegt, die von der Beschädigung gleich dreier Generationen zeugen - auch 60 Jahre danach. Beim Einsatzen der Handlung ist diese Frau bereits 90 Jahre alt und noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Zusammen mit ihrer schönen Tochter Nina kam sie 1962 als Einwanderin nach Israel. Sie heiratete und wurde zum Mittelpunkt einer Familie, zu der auch die Erzählerin Gili gehört. Diese Filmemacherin von Ende 30 verbindet eine enge Beziehung zu ihrer Großmutter, die es geschafft hat, sich dank ihres sprühenden Geistes und ihres ausgeprägten Lebensmutes eine neue Existenz in dem fremden Land aufzubauen.
Über Rückblenden zeichnet David Grossman so den wechselvollen Weg nach, den die charismatische Frau nahm, von der Jugend im jugoslawischen Königreich und ihrer glücklichen, aber auch kurzen ersten Ehe mit dem serbischen Kommunisten Milos über den Weg in den Untergrund während der Besetzung in den Nazi-Jahren bis zum Weg ins Exil und dem erfolgreichen Neuanfang in Israel. Doch eine Leerstelle bleibt - und die hängt eng mit dem gescheiterten Leben von Veras Tochter und Gilis Mutter Nina zusammen. Der Erzählerin - und damit auch den Lesern - blättert sich dieses biografische Kapitel in seiner ganzen dramatischen Tragweite erst nach und nach auf. Es ist, ohne zuviel zu verraten, ihre Internierung während der Nachkriegsjahre in Goli Otok. Dieses Straflager war über Jahrzehnte ein Ort des Schreckens, genannt "Titos KZ", von dessen Existenz die Welt erst spät durch die Biografie von Eva Panic-Nahir erfuhr.
Denn Vera wurde (wie Eva Panic-Nahir) in Titos Jugoslawien als angebliche Stalinistin verurteilt und auf diese karge Adriainsel deportiert, wo sie vor eine teuflische Entscheidung gestellt wird: sich mit einer Unterschrift für ihren toten Ehemann oder ihre kleine Tochter zu entscheiden. Das Motiv wird zum Kern des Romans, der darüber hinaus eine Frage aufwirft, die sich wohl jeder von Zeit zu Zeit stellen muss: Wie viel von unseren Eltern und Großeltern steckt in uns selbst? Wie haben sie uns jenseits ihrer Erziehung geprägt und geformt? David Grossman beantwortet diese Schicksalsfragen in seinem neuen Buch einmal mehr mit erzählerischer Meisterschaft und großer emotionaler Wucht.
David Grossman: Was Nina wusste. 352 Seiten. 25 Euro. Hanser.