Die Mediziner berichten unisono, die Geschäftsführung habe in einem Gespräch erklärt, auch ohne Kündigung einer Belegärztin wäre Schluss gewesen. Die Klinik streitet dies ab.
DILLENBURG/HAIGER/HERBORN/ WETZLAR. Das Aus ist beschlossene Sache, zum Jahresende soll die Geburtshilfe der Dillenburger Klinik dichtgemacht werden. Aber: War das Aus schon seit Monaten beschlossene Sache? Diesen Eindruck nähren übereinstimmende Aussagen von zwei Belegärzten der Geburtshilfe.
Die kreiseigene Klinik in Dillenburg hat keine eigene Geburtsstation, es ist vielmehr eine Belegarztstation. Das heißt: Drei freiberufliche Gynäkologen (aus Dillenburg, Haiger und Herborn) betreiben sie in der Klinik. Darüber hinaus arbeiten dort Beleg-Hebammen und Krankenschwestern.
Die Geschäftsführer der Lahn-Dill-Kliniken, Tobias Gottschalk und Katja Streckbein, erklären seit Monaten, erst die Kündigung der Fachärztin Constance Scholl aus Haiger habe zum Entschluss geführt, die Geburtshilfe dichtzumachen. Da auch die anschließende Stellenausschreibung keinen Erfolg gebracht habe, folgte vergangene Woche das endgültige Aus.
Das sehen Scholl sowie der Herborner Frauenarzt Dr. Axel Valet, zwei der Belegärzte, anders. Das hätten sie so vermutlich auch längst der Kreispolitik öffentlich erzählen können. Und den Kreistagsabgeordneten, die zuständig für die kreiseigenen Lahn-Dill-Kliniken mit ihren Standorten in Wetzlar, Dillenburg und Braunfels sind, vielleicht noch weitere wichtige Infos mitteilen können, zum Beispiel über die 20-Minuten-Frist, binnen der die Belegärzte in Notfällen in der Klinik sein sollen.
Politiker hatten auch ein „Redebedürfnis“ bei Belegärzten und Hebammen ausgemacht. Linken-Abgeordnete Christiane Ohnacker hatte im Kreistag gesagt: „Es ist nicht in Ordnung, die Debatte zu beenden, bevor wir nicht auch Ärzten und Hebammen einmal das Wort gegeben haben.“ Für einen Antrag ihrer Fraktion, die Mediziner in einer Sozialausschuss-Sitzung zu hören, stimmten jedoch nur Linke, Grüne, AfD und ein SPD-Politiker. SPD, CDU, FWG und FDP waren dagegen.
Warum sollten die Ärzte nicht mehr reden dürfen? Diese Zeitung hat sie angehört. Valet, einst selbst Kreistagsabgeordneter für die FWG, sagt eingangs: „Jetzt sind die Würfel gefallen. Im Sommer hätte ich gerne im Sozialausschuss dazu gesprochen. Doch jetzt hat sich mein Redebedarf mit der Politik erschöpft.“
Klinik streitet von Valet und Scholl zitierte Aussage ab
Gegenüber dieser Zeitung berichten beide Mediziner aus einem Gespräch im Sommer dieses Jahres mit Klinik-Geschäftsführung und Landrat Wolfgang Schuster (SPD), er ist zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der kreiseigenen Lahn-Dill-Kliniken. Constance Scholl hatte im Juni fristgerecht zum Jahresende gekündigt. Wenige Tage später sei es zu dem Treffen gekommen. Sie erzählt: „Kollege Valet fragte, wann denn der Kreißsaal hätte geschlossen werden sollen, wenn ich nicht gekündigt hätte. Antwort der Geschäftsleitung: ,auch dann zum 31.12‘.“
Axel Valet bestätigt: „Das ist richtig. Das war genau die Antwort: ,Auch dann wäre am 31.12. zugemacht worden‘.“ Er glaubt, Scholl habe der Klinik-Geschäftsführung mit ihrer Kündigung einen Gefallen getan, Argumente für eine Schließung geliefert. Auch Scholl ist inzwischen überzeugt, dass ihre Kündigung der Geschäftsleitung in die Karten gespielt habe. Und auch Dr. Assem Hossein aus Dillenburg, der dritte Belegarzt, glaubt, dass die Kündigung ein „leichtes Geschenk“ für die Geschäftsführung gewesen sei und dass man die Schließung der Geburtshilfe gewollt habe.
Die Geschäftsführung streitet die von Valet und Scholl zitierte Aussage ab. Die Pressestelle der Lahn-Dill-Kliniken teilte auf Anfrage mit: „Frau Streckbein und Herr Gottschalk haben die Gespräche mit den Belegärzten der Geburtshilfe immer gemeinsam geführt. Der zitierte Satz ist so nie gefallen. Für die Schließung mit Datum zum 31.12.2022 ist die Kündigung von Frau Scholl ausschlaggebend. Ab diesem Zeitpunkt stehen nur noch zwei Belegärzte für die Weiterführung der Geburtshilfe zu Verfügung. Für den Betrieb des Kreißsaals in den Dill-Kliniken werden jedoch mindestens drei Belegärzte benötigt.“
Im Mai dieses Jahres hatte ein erstes Gespräch stattgefunden. Die Geschäftsführung habe nach Wetzlar eingeladen, so Constance Scholl. Thema sei eine Ärzte-Leitlinie gewesen, die sogenannte Entscheidungs-Entbindungs-Zeit, kurz E-E-Zeit, eine Empfehlung der deutschen Gesellschaft für perinatale Medizin. Sie besagt: Spätestens 20 Minuten nachdem die Entscheidung für einen Notfallkaiserschnitt getroffen wurde, sollte ein Kind entbunden sein. Die Versicherung würde auf die Einhaltung der Leitlinien drängen. Valet: „Diese Leitlinie gibt es schon lange, sie ist auch sinnvoll, aber wir hatten damit nie ein Problem.“ Er habe mal bei der Landesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung die E-E-Zeiten der Belegärzte in Dillenburg abgefragt; „die waren gut“.
Die Geschäftsführung habe in dem Gespräch jedoch eine Garantie der Belegärzte gefordert, dass sie innerhalb von zehn Minuten vor Ort in der Klinik sein und in einem Notfall ein Kind spätestens nach 20 Minuten zur Welt gebracht haben sollten, so berichtet es Valet. Sie hätten die Einhaltung dieser Fristen mit einer Unterschrift gegenüber der Geschäftsführung garantieren sollen.
Für Assem Hossein, er praktiziert als Frauenarzt in Dillenburg, kein Problem. Anders für Scholl aus Haiger und Valet aus Herborn. Constance Scholl sagt: „Wir haben bisher noch nie ein Problem mit der Einhaltung dieser Frist gehabt. Aber ich kann nicht unterschreiben, dass ich die Zeit in jedem Fall einhalten werde.“ Was wäre bei einem Unfall zwischen Haiger und Dillenburg oder einem Stau? Sie habe kein Blaulicht auf ihrem Privat-Pkw. „Daraufhin habe ich im Juni fristgemäß zum Jahresende gekündigt.“ Sie stellt klar: „An mir lag es nicht. Wenn die Forderung der Geschäftsführung nicht gewesen wäre, wäre es ganz normal weitergelaufen. Ich bin definitiv nicht die Dichtmacherin der Geburtshilfe.“
Dr. Valet berichtet: „Frau Scholl hätte unter den bisherigen Bedingungen nicht gekündigt. Und mein Belegarztvertrag wäre erst Ende Januar 2024 ausgelaufen (seine gynäkologische Praxis will der 63-Jährige weiter betreiben, er plane noch keinen Ruhestand). Bis dahin hätte man noch eineinhalb Jahre Zeit gehabt, eine Lösung zu finden.“
Die beiden Mediziner geben auch Einblick in die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit als Belegärzte. Beispielsweise zum Thema Haftpflichtversicherung. Behandlungsfehler können bei Geburten schwerwiegende Folgen haben. Und Gesundheitsschäden können hohe Schadenersatzforderungen nach sich ziehen.
Scholl berichtet: Als sie vor elf Jahren in der Klinik angefangen habe, habe sie eine entsprechende Haftpflichtversicherung gesucht. Einige Versicherer, die sie angefragt habe, hätten sie ausgelacht. Geburtshilfe versicherten sie schon seit Jahren nicht mehr. Erst durch einen Versicherungsmakler in Köln habe sie überhaupt eine Versicherung gefunden, die bereit gewesen sei, das Risiko zu übernehmen und im Schadensfall einzuspringen. Das habe auch seinen Preis: Kommendes Jahr hätte sie eine Versicherungsprämie von rund 90.000 Euro zahlen müssen, nur für ihre Tätigkeit in der Geburtshilfe.
Valet bestätigt diese aktuelle Preiskategorie. Bei ihm seien es rund 70.000 Euro. „Finanziell lohnt sich das nicht, wir machen damit Minus“, sagt er. „Ich habe quasi für die Klinik noch Geld mitgebracht“, sagt Constance Scholl. Heißt: Mit ihrer Nebentätigkeit in der Klinik verdienen sie weniger, als sie für die Versicherung zahlen. „So viele Geburten können wir gar nicht machen“, erklärt Valet. Da müsse er schon bei 150 Notfallgeburten in der Klinik im Einsatz sein. Die Versicherungsprämie sei mit Geburten alleine nicht zu erwirtschaften.
Warum arbeitet er dann überhaupt als Belegarzt in der Klinik? Axel Valet: „Es ist mein Beruf, und Geburten gehören zu meinem Berufsbild dazu. Ich bin Gynäkologe, kein Internist. Und ich mache es gerne. Es ist eine tolle und hochbefriedigende Tätigkeit, wenn sie einer Mutter als Erster nach einer Geburt gratulieren können.“ Aber: Müsse er, wie von der Klinik-Geschäftsführung gefordert, innerhalb von zehn Minuten in der Klinik sein, dann müsse er bei 10 bis 15 Bereitschaftsdiensten pro Monat in der Klinik schlafen und auch tagsüber den Kreißsaal hüten. Dann müsse er für diese Zeit seine Praxis zumachen. „Das wäre finanziell nicht darstellbar.“
Statt einer Anhörung der Mediziner durch die Kreispolitik folgte Anfang November eine Infoveranstaltung der Geschäftsführung in Dillenburg mit einer leitenden Oberärztin der Geburtshilfe in Darmstadt. Scholl und Valet haben dafür nur Kopfschütteln übrig. Scholl: Die Oberärztin habe im Auftrag der Lahn-Dill-Kliniken berichtet, warum es besser sei, in Level-1- und Level-2-Krankenhäusern (mit höheren Standards für die Geburtshilfe) zu entbinden und nicht in Level-4-Krankenhäusern. Anmerkung von Scholl: Dillenburg sei ein Level-4-Krankenhaus. „Damit hat man doch die Richtung vorgegeben und die Bevölkerung auf das Aus vorbereitet.“
Das war ein ganz trauriger Tag für viele junge Frauen in unserer Region.
Valets Urteil über diesen Vortrag: Was diese Oberärztin referieren würde, hätte man vorher auch schon im Internet nachlesen können; ihr Standpunkt sei von Anfang an klar gewesen. Sein Eindruck: Man wolle in Deutschland eine Konzentration und nur noch wenige Geburtskliniken.
Am Freitag hatte die Geschäftsführung der Lahn-Dill-Kliniken gegenüber den Beschäftigten der Geburtshilfe in Dillenburg das Aus verkündet. Dr. Valet: „Das war ein ganz trauriger Tag für viele junge Frauen in unserer Region.“
Im Laufe eines Jahres passiere es mehrmals, dass Frauen gerade noch so zur Geburt in die Klinik kommen. Er mag sich die Situation von werdenden Eltern, die künftig vielleicht im Winter von Siegbach über die Gladenbacher Berge nach Marburg zur Geburtsstation fahren, in Gedanken gar nicht weiter ausmalen.
Valet hatte am Wochenende, also unmittelbar nach der Verkündung der geplanten Schließung, Dienst. „Es war eine sehr gedrückte Stimmung“, berichtet er aus der Dillenburger Klinik. Aber was er unbedingt noch mitteilen will: „Wir stehen noch bis zum 31. Dezember zur Verfügung. Wir wollen noch so lange helfen, wie wir dürfen.“ Dürfen – das Wort wiederholt er.