LAUTERBACH - Die Sonne strahlte vom blauen Himmel auf die dunkle Erinnerung an Unrecht und Tod und auf die Namen derer, die nun auf den Stolpersteinen dem Vergessen entrissen werden sollen. Den historisch bedeutsamen 8. Mai hatten sich die Mitglieder der Initiative Stolpersteine und Lauterbacher Schüler für ihre historisch bedeutsame Aktion ausgesucht. Dieser Tag steht für die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht, das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Herrschaft der Nationalsozialisten vor 73 Jahren. Ein guter Tag also, um in Lauterbach jene Stolpersteine vor den Häusern in den Asphalt einzulassen, aus denen einst jüdische Mitbürger vertrieben worden waren. Deren heutige Besitzer hatten sich bisher gegen eine Verlegung vor ihren Häusern gesträubt. Nach einem Beschluss der Lauterbacher Stadtverordnetenversammlung waren nun die letzten vier an der Reihe, die bisher auf dem Marktplatz vor dem Rathaus eingelassen waren.
Rund 80 Menschen verfolgten das Geschehen an den vier Häusern in der Bahnhofstraße. Stimmungsvoll gestaltet wurde die Verlegung der Steine von den Schülerinnen und Schülern der Fachschule für Sozialpädagogik an der Vogelsbergschule mit ihren Lehrern Anka Hirsch, Gigi Vahldieck und Norbert Ludwig. "Die Teilnahme und Gestaltung der Stolpersteinverlegung sei ein wichtiger Teil der Ausbildung", betonte Ludwig, der selber Mitglied der ersten Stunde der Stolperstein-Initiative ist. Auch das Stadtjugendparlament mit Jugendpfleger Andreas Goldberg war wieder mit von der Partie, ebenso die Klasse 7a der Schule an der Wascherde mit ihrer Lehrerin Andrea Noeske und Heike Hohmann, die an der Schule die schulbezogene Sozialarbeit betreut. Die Klasse hat sich schon in der Vergangenheit mit dem Thema Stolpersteine befasst und setzt sich auch sonst unter dem Motto "Klare Kante" aktiv für ein menschliches Miteinander ein.
Erste Station war das Haus in der Bahnhofstraße 3. Hier hatte es im Vorfeld Streit mit dem Besitzer Dieter Euler gegeben, der sich gegen eine Verlegung ausgesprochen hatte (der LA berichtete). Nachdem die Stadt 2009 zunächst die Verlegung aufgrund des Widerstandes zurückgestellt hatte, wurde nun, nach einem erneuten und einstimmigen Beschluss der Stadtverordneten, die Verlegung durchgeführt. Euler selbst war an dem Tag nicht anwesend.
Steinerne Erinnerung an das Schicksal der Familie Weinberg vor dem Haus in der Bahnhofstraße 3: Nicht nur hier wurden am Dienstag die letzten Lauterbacher Stolpersteine verlegt. Fotos: Kempf
Mit dem Gedicht Erich Frieds "Gegen das Vergessen" eröffneten die Fachschüler für Sozialpädagogik die Gedenkstunde. Dass der Festakt mit einem Gedicht begann, bezeichnete Professor Karl-August Helfenbein als "beglückend", schließlich seien es gerade die Juden gewesen, die Deutschland stets kulturell bereichert hätten. "Schrei und Wort", unter dieses dialektische Motto hatte er seine sehr ergreifende Ansprache gestellt, in der er an die Gewalt der Nazis und die Vertreibung der Lauterbacher Juden aus ihren Häusern erinnerte. Dem Wort folge der Schrei. "Wer kommt ohne den Schrei aus, in dieser Stunde?", fragte Helfenbein in die Runde, als er an die Erniedrigung und Verfolgung der Juden erinnerte. "Es fing bei den Nazis mit Schreien an, und mundtot und sprachlos hat man zunächst die Juden gemacht." Das stehe auch für das, was den Juden mitten in Lauterbach passiert sei. Der Propaganda und Hetze der Nazis folgten Erniedrigung, Schmerz und Tod. "Und was ist das Letzte der Inhumanität? Der Schrei der Gaskammern!"
DIE STOLPERSTEINE
Bahnhofstraße 3: Sally Weinberg, Rosa Weinberg und Arthur Weinberg (deportiert 1941); Bahnhofstraße 66: Juda Baumann (deportiert 1942); Bahnhofstraße 70: Theresa Strauß und Sara Spier (beide deportiert 1942); Bahnhofstraße 86: Joachim Friedländer, Horst Friedländer, Berta Friedländer, Gerson Friedländer und Ernst Friedländer (alle deportiert 1942).
Helfenbeins Rede als Zeitzeuge berührte die Zuhörer. Auch die Elfriede Roths. Die 93-jährige Lauterbacherin hatte als "Schabbesmädchen" für Lauterbacher Juden am Sabbat kleinere Arbeiten verrichtet, da diese an diesem Tag nicht arbeiten durften. "Ich habe dadurch eine enge Beziehung zu den Familien gehabt", erinnerte sich Roth.
Bürgermeister Rainer-Hans Vollmöller betonte, dass man sich nun "an der richtigen Stelle" an die deportierten und ermordeten Mitbürger erinnern und ihrer gedenken könne. "Die Stolpersteine erinnern uns mitten im Alltag an das Leid unserer ehemaligen jüdischen Lauterbacher Mitbürger." Sie erinnern aber auch daran, "dass es Nachbarn und Mitbürger der jüdischen Bürger waren, die in dieser Stadt die Synagoge angezündet haben und an einem menschenverachtenden System mitgewirkt haben".
Verlegt wurden diese Stolpersteine und auch die folgenden von den städtischen Betriebshof-Mitarbeitern Martin Kreis und Heiko Hamel. Auch für sie waren diese Arbeiten etwas Besonderes, wie Martin Kreis sagte, sie erzeugten Bilder im Kopf von schlimmen Zeiten, die er aus Büchern und dem Fernsehen kenne. Vor dem Einlassen der Steine verlasen Schülerinnen und Schüler die Namen der deportierten und ermordeten Mitbürger.
Auch Dirk Kurzawa, Vorsitzender der Lauterbacher SPD-Fraktion, verfolgte die Verlegung der Stolpersteine. Seine Fraktion hatte den Anstoß zur Verlegung vor den eigentlichen Häusern gegeben. "Ich freue mich, dass das Parlament unserem Antrag gefolgt ist und das Provisorium vor dem Rathaus nach fast zehn Jahren nun beendet ist. Wir setzen damit ein Zeichen", betonte er. Jutta Heß war als Vertreterin der christlichen Kirchengemeinden und Mitglied der Stolperstein-Initiative vor Ort. Bahnhofstraßen-Anwohnerin Hanne Pfeifer deren verstorbener Mann Thilo Pfeifer sich ebenfalls in der Initiative engagiert hatte, begrüßte die Verlegung vor ihrem Haus, dessen Eigentümer sie vor zehn Jahren abgelehnt hatte.
Vor der Hausnummer 66 verlasen die Vogelsbergschüler das Gedicht "Jeder Tod" von Annemarie Schnitt. Vor dem Haus in der Bahnhofstraße 70 konnten die Teilnehmer in Anlehnung an die jüdische Trauerzeremonie Steine auf der Mauer ablegen. An der vierten und letzten Station vor dem Haus Nummer 86, dem ehemaligen Haus der jüdischen Familie Friedländer, wurden weiße Luftballons verteilt. Sie wurden mit Karten versehen, die unter anderem eine Friedenstaube zierte, die die Schüler der 7a der Wascherde-Schule gestaltet hatten.
Das immer wieder für Gänsehaut sorgende "Halleluja" vom unvergessenen kanadisch-jüdischen Sänger Leonard Cohen sangen André Weinlein und Jessica Siepl, begleitet von Chrissi Seidel auf der Gitarre. Eindrucksvoll das Schlussbild: Über 80 Ballons mit der Botschaft "Frieden, Respekt, Miteinander" stiegen in den strahlend blauen Himmel auf und schwebten in die Ferne.