Feministische Nibelungen-Festspiele begeistern

Brünhid (Genija Rykova, auf der Leinwand) steht in „hildensaga“ klar im Zentrum. Foto: photagenten/Andreas Stumpf

Roger Vontobel inszeniert „hildensaga“ bei den Nibelungen-Festspielen in Worms als ein kluges Spektakel, bei dem Brünhild und Kriemhild sich verbünden.

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WORMS. Können sie sich vertrauen? Brünhild (Genija Rykova) und Kriemhild (Gina Haller) belauern sich. Kann es sein, dass sie ineinander eine Verbündete finden? Die stolze isländische Königin, die ihren Willen zur Freiheit, ihren Willen dazu, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, gerade so teuer bezahlt hat? Und die nur scheinbar angepasste, nur scheinbar in das klassische, höfische Frauenideal ergebene Burgunder-Königin, deren Ekel auf die hässliche Wahrheit hinter der schönen Fassade der höfischen Welt von Tag zu Tag größer wird? Ja, sie werden es tun, sie werden sich verbünden: „Zwei gegen einen ganzen Hof“.

Es ist dieser Moment, in dem das Stück „hildensaga“ aus der Feder des österreichischen Dramatikers Ferdinand Schmalz eine Abzweigung nimmt, vom Verlauf der klassischen Nibelungensage abweicht. Und er kommt gar nicht mal so früh, fast zwei Drittel der Inszenierung sind zu diesem Zeitpunkt bereits vorüber. Trotzdem ist auch das, was zuvor bei der Premiere der Nibelungen-Festspiele zu sehen ist, ganz anders als der Nibelungen-Mythos, den wir zu kennen meinen. Was an einer klugen Fokus-Verschiebung liegt: Schmalz stellt Brünhild von Anfang an ins Zentrum. Die Isenkönigin, die in der klassischen Erzählung eher eine Projektionsfläche bleibt für alles Wilde und Gefährliche, das die Männer der Sage erobern und zivilisatorisch zähmen wollen, wird hier zur Heldin ihrer eigenen Geschichte.

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Sie ist es, die Siegfried (der infolge dieser Fokus-Verschiebung vom Helden zum Anti-Helden wird; Felix Rech spielt in einer perfekten Mischung aus roher Männlichkeit und dem verwundbaren, letztlich unsicheren Kern in ihrem Zentrum) ganz am Anfang als Ebenbürtige gegenübertritt. Es ist das Treffen zweier Naturgewalten, die sich in all ihrer Stärke nach Verletzlichkeit und Nähe sehnen – und sie doch nicht bei einander werden finden können.

Brünhild weigert sich, ein Opfer des Patriarchats zu sein

Brünhild ist es auch, die sich gegen ihren Göttervater Wotan (wunderbar selbstgefällig und selbstgerecht: Werner Wölbern) und seinen Anspruch auf Herrschaft über ihr Leben auflehnt. Der nordische Gott und „Allvater“ ist, ebenso wie die drei Schicksalsfäden webenden Nornen, eine Figur, die Ferdinand Schmalz dem Personal des mittelhochdeutschen Nibelungenlieds hinzufügt – die in anderen Versionen des Stoffs jedoch ebenfalls zu finden ist. Bei Schmalz stellt Wotan das alte, heidnisch-ungezügelte Patriarchat dar, das Frauen wie Brünhild auf den ersten Blick mehr Freiheiten gibt – nur um umso brutaler zurückzuschlagen, wenn es die eigene Machtposition bedroht sieht. Die Welt des Wormser Hofes rund um Burgunder-König Gunther (Frank Pätzold spielt ihn als reichtumsverwahrlostes, verzogenes Mann-Kind) ist demgegenüber das scheinbar zivilisierte, gesittete Patriarchat – das sich aber ebenfalls nicht davor scheut, mit äußerster Brutalität vorzugehen, wenn die eigenen Privilegien in Gefahr sind. Eine Wahrheit, die Kriemhild (von Gina Haller zunächst als bewusst performtes Weiblichkeitsklischee gespielt, jede Bewegung ein einziger sexy Hüftschwung, bevor sie im Aufbegehren zu sich selbst findet) bereits ahnt. Noch bevor der Kriemhild frisch angetraute Siegfried, zusammen mit ihrem Bruder Gunther, die bereits nur durch schmutzige Tricks nach Burgund verbrachte Brünhild vergewaltigt.

Diese wiederum weigert sich, Opfer zu sein. Genija Rykova spielt sie mit ungeheurer Kraft und einem Willen, der noch im Schmerz unerschütterlich bleibt. Bis sie, mit Kriemhilds Hilfe, Rache an der Männerherrschaft nimmt.

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Es sind diese Momente, und auch das bewusste Wegsehen und herumlavierende Rechtfertigungsgeiere von Männern wie Gernot (Nicolas-Frederick Djuren), Giselher (Joshua Seelenbinder) und Hagen (teils rücksichtsloser Machtpolitiker, teils zynischer CEO der Firma Burgund: Heiko Raulin), in denen das Stück am ehesten an die durch die MeToo-Kampagne angestoßene Debatte erinnert.

Wasserlandschaft vor dem Dom ist schlicht spektakulär

Das „hildensaga“ in Worms zu einem durchaus beeindruckenden Theaterabend wird, der über drei Stunden hinweg praktisch keine Längen aufkommen lässt, ist allerdings nicht nur Schmalz‘ kluger Aktualisierung des Stoffs und dem diesmal wirklich durchweg exzellenten Schauspiel-Ensemble zuzuschreiben. Sondern vor allem auch der Inszenierung von Roger Vontobel. Der Schweizer Regisseur beweist nach 2018 einmal mehr sein Talent dazu, die Schauwerte zu bedienen, die ein solches Freilicht-Festival-Theater wie in Worms braucht – ohne sie zum reinen Selbstzweck werden zu lassen. Die Wasserlandschaft, die Bühnenbildner Palle Steen Christensen vor den Wormser Dom gesetzt hat, ist schlicht spektakulär – wie die Schauspieler sie nutzen, in ihr teils waten, teils schwimmen, teils robben, teils mitten aus ihrer Mitte heraus auftauchen, steht aber gleichzeitig stets im Dienst von Vontobels in Timing und Schauspielführung äußerst präzisen, konzentrierten Inszenierung. Die treibende, teils mittelalterlich anmutende, teils rockige Musik (Matthias Hermann, Keith O‘Brien) sowie Videoeffekte (Clemens Walther), die den Wormser Dom zum mythischen Wald samt Riesen verwandeln (Gastauftritt eines Festival-Urgesteins: Mario Adorf) tragen wiederum ihren Teil zur eindringlichen Atmosphäre bei.

Wobei die Produktion in den letzten 50 Minuten nach der Pause doch etwas an Kraft verliert – was auch am Stück liegt, dem gegen Ende hin ein wenig der Fokus verloren geht. Frauen sind letztlich natürlich auch nicht die besseren Männer – auch Brünhilds Rache und Kriemhilds Aufbegehren führt in den Abgrund, ins Entfesseln der „wölfischen Zeiten“. Das ist einerseits folgerichtig, andererseits hätte man sich gewünscht, dass die Gründe der Katastrophe besser ausbuchstabiert werden. Dennoch: Den Gesamteindruck dieses starken Theaterabends kann das nicht trüben.

Von Johanna Dupré