Wenn das Vogelsberger Dachgeschoss zur Herberge wird
Auch im ländlichen Raum des Vogelsbergs besteht Interesse an Couchsurfing-Unterkünften. Mahdi und Shymaa Al-Dayyeni bieten ihr Dachgeschoss als Herberge an. Die Erfahrungen mit ihren Gästen schätzen sie als wertvoll ein.
Von Bettina Gies
Mahdi (links) und Shymaa Al-Dayyeni empfehlen ihren Couchsurfing-Gästen stets einen Gang in Alsfelds Altstadt. Foto: Gies
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
ALSFELD - Sparsame Reisende haben viele Möglichkeiten auf ihren Touren günstig eine Bleibe zu finden. Bed and Breakfast in Hostels oder auch in privaten Airbnb-Unterkünften erfreuen sich großer Beliebtheit. Wer mehr als eine bloße Übernachtungsmöglichkeit sucht, für den gibt es eine weitere Option: Couchsurfing. Bei diesem Konzept kehren Reisende nicht nur kostenlos bei ihrem privaten Gastgeber ein, und so kommen sie auch gleich in Kontakt mit Einheimischen. Die auf der Internetseite couchsurfing.com zu findenden Einträge und Kommentar legen nahe: Nutzer der Plattform gelten als aufgeschlossen und kommunikativ und sie schätzen die Möglichkeit, sich über unterschiedliche Kulturen auszutauschen, sich die Stadt zeigen zu lassen oder einfach einen netten Abend zusammen zu verbringen. Doch ist Alsfeld tatsächlich ein attraktives Ziel für Couchsurfer? Ein Blick auf die Plattform zeigt zumindest 144 potenzielle Gastgeber in Alsfeld und seinen Stadtteilen.
Mahdi und Shymaa Al-Dayyeni gehören zu diesen. Das junge Paar beherbergte in den vergangenen Jahren einige nationale und internationale Gäste. Selbst als Gäste unterwegs waren sie bisher jedoch noch nicht. Dabei hatten die beiden ursprünglich den Gedanken gefasst, als Reisende Couch zu surfen, und sind so auf die Plattform gestoßen: Als sie zu einer Sprachprüfung nach Frankfurt mussten, suchten sie nach einer Möglichkeit, günstig in der Stadt unterzukommen und ganz nebenbei Leute kennenzulernen und somit ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Allerdings bekamen sich aus der Metropole auf ihre Anfrage über die Plattform keine einzige positive Rückmeldung, da sie selbst noch keine Gäste beherbergt hatten. Die Idee, anderen eine Herberge zu bieten, reizte sie jedoch weiterhin, und sie behielten diese für die Zukunft im Hinterkopf. Zwei Jahre später in Lauterbach setzten sie dann ihren Plan in die Tat um.
Ihre erste Anfrage erhielten sie von einem 60-jährigen Fahrradtouristen. Jetzt war Eile geboten. Innerhalb von zwei Tagen renovierten sie den kompletten Dachboden, zogen sogar einen neuen Boden hinein. Dann kam die große Frage auf: Was erwarten solche Gäste eigentlich? Etwas besorgt seien sie darüber gewesen, dass sie dem Gast kein eigenes Bad bieten konnten. Aber die Zweifel hätten sich als unbegründet erwiesen. Der erste Couchsurfer sei erfreut gewesen, ein eigenes Zimmer für sich zu haben, erinnert sich das Paar. In manchen Unterkünften habe er nur eine Matratze vorgefunden - notdürftig im Badezimmer auf den Boden gelegt, schlildern sie heute seine Erzählungen. Sehr dankbar sei er zudem dafür gewesen, dass Shymaa Al-Dayyeni extra gekocht hatte. "Er kam sehr erschöpft an", berichtet sie. Trotzdem hätten sie abends noch sehr lange zusammengesessen und geredet. "Er hat mir viel über das Fotografieren beigebracht. Ich hatte das neue Hobby gerade angefangen, und er hat mir viele hilfreiche Tipps gegeben, die ich bis heute anwende", erzählt der 30-Jährige. Ihm und seiner gleichaltrigen Frau ist dieser Gast nachdrücklich in Erinnerung geblieben. "Er war ein dankbarer Mensch", sagt Mahdi Al-Dayyeni. Nach dieser Begegnung - einer "sehr angenehmen Erfahrung" - wollten sie auf jeden Fall weiteren Menschen eine Herberge bieten.
Seit dem Jahr 2017, nach ihrem Umzug von Lauterbach nach Alsfeld, beherbergen sie regelmäßig jedes Jahr in der Sommersaison ein bis zwei Gäste für nicht mehr als zwei Nächte. Vor einer guten Woche erst hat sich gerade wieder ein Couchsurfer aus ihrer Wohnung verabschiedet. Nun sind sie gespannt auf einen Gast aus den Niederlanden, der sich für die nächsten Tage angekündigt hat, sagen sie.
Die zwei können sich mittlerweile keine bessere Möglichkeit vorstellen, interessante Menschen aus aller Welt kennenzulernen "Wir sind neugierig. Die Menschen, die über Couchsurfing zu dir kommen, wollen gerne mit dir reden, beantworten dir alle Fragen", erklärt Mahdi Al-Dayyeni und fügt begeistert hinzu: "Du lernst von jedem Gast etwas: Welche Fahrradhose ist bequem und tauglich? Welche Bier- oder Weinsorte aus ihrer Region ist besonders schmackhaft? Du wärst ohne diese Menschen nie darauf gekommen."
"Außerdem bekommst du immer nette Gesten entgegengebracht", stimmt Shymaa Al-Dayyeni ihrem Mann zu. "Sie zeigen dir ihre Anerkennung dadurch, dass sie wenig dabei haben, aber das immer gerne teilen. Das bedeutet viel mehr", meint auch Madhi Al-Dayyeni. Man könne davon ausgehen, dass die Couchsurfer keine reichen Leute seien. Zudem hätten sie zumeist junge Menschen zu Gast gehabt, die nach der Schule oder dem Studium erst mal eine größere Reise unternommen hätten. Kennenlernen durften sie so bislang Menschen aus aller Welt: Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und sogar Australien. Das hat zur Folge, dass sie mit ihren Gästen, die oft durch das Radwandern auf Alsfeld kommen, häufig Englisch sprechen müssten. Das sei eine gute Übung, und er sei dadurch selbstbewusster geworden, meint Mahdi Al-Dayyeni.
Perspektivwechsel: Jacques van der Hofstede aus Leiden in Zuid-Holland erreicht Alsfeld nach einer Tour über Bippen und Limburg (Lahn). Nach einer Übernachtung bei den Al-Dayyenis geht es für ihn weiter nach Göttingen. Der, wenn auch kurze Zwischenstopp im Juni dieses Jahres ist ihm in Erinnerung geblieben. Neben weiteren neun Couchsurfing-Stationen beschreibt er diesen als besonders "familiär". Er sei mit einem Getränk und einem warmen Abendessen sehr herzlich willkommen geheißen worden, beschreibt der Niederländer, zudem hoffe, dass er eines Tages auch seinen beiden ehemaligen Gastgebern eine Bleibe bieten könne. Außerdem plane er eventuell einen erneuten Ausflug, um die beiden erneut zu besuchen. Solche Angebote zu einem Gegenbesuch seien durchaus üblich, sagen Shymaa und Madhi Al-Dayyeni.
"Wir hatten in den vergangenen Jahren mehr fremde Gäste als Freunde eingeladen", berichtet Shymaa Al-Dayyeni. Sich auf Besuch vorzubereiten bedeute meist einen Aufwand. Das war zunächst auch beim Couchsurfing so: "Am Anfang haben wir uns gestresst", erinnert sich die junge junge Frau, aber mittlerweile hätten sie festgestellt: "Egal, was du dir vorher für Gedanken machst. Die Leute sind dankbar. Du musst eigentlich gar nichts bieten", ergänzt Mahdi Al-Dayyeni "Irgendwie klappt es besser, wenn es so spontan ist." Da habe man keine Zeit, sich viele Gedanken zu machen, meint die 30-Jährige. Das Zimmer, das mittlerweile den Gästen dient, ist normalerweise ein Arbeitszimmer. Wenn sich ein Gast bei den beiden Medizinern ankündige, sei es aber in Windeseile zu einem gemütlichen Gästezimmer samt Bett, Couch und kleinem Tischchen umgebaut. Shymaa Al-Dayyeni erklärt stolz, dass sich ihr Gästezimmer mit der Zeit richtig entwickelt habe: Von einer kleinen Dachkammer, mit der sie angefangen haben, habe es sich hin zu einer ansehnlichen Unterkunft entwickelt. Sie gäben sich schon Mühe geben, ihre Gäste sollten sich schließlich wohlfühlen, sagen die beiden gebürtigen Iraker.
Ihre beeindruckendsten Gäste waren für sie ein Abenteurerduo aus Cannes. Die beiden Franzosen hatten das junge Paar angeschrieben und erzählt, sie seien zu Fuß auf dem Weg zum Nordpol. Allein aus Neugierde luden Mahdi und Shymaa Al-Dayyeni die Gäste daraufhin ein - auch wenn sie deren Geschichte zunächst nicht so recht glauben wollten. "Wir wollten die Menschen kennenlernen, um ihre Geschichte zu hören", sagen sie. Zahlreiche Bilder hätten dann die unglaubliche Reise der beiden Expediteure tatsächlich belegt: Zwei Banker, die eine Art Pilgerreise unternommen hatten, um sich selbst besser kennenzulernen. Dabei waren sie tatsächlich bei Schnee und Eis durch die Alpen gestiefelt - dazwischen viele Übernachtungen über Couchsurfing. Wenn sie allerdings keine Bleibe gefunden hätten, hätten sie im Freien gezeltet. Shymaa und Mahdi Al-Dayyeni zeigen sich noch heute sichtlich fasziniert von diesem Reisebericht. Mahdi Al-Dayyeni erzählt lachend: "Das war schon ein Bild, als sie da am ersten Abend vor der Tür standen: Sie waren wirklich richtig dreckig, hatten schlammige Stiefel. Sie hatten so dicke Holzstöcke. Mit ihren Bärten sahen sie aus wie aus dem Mittelalter. Ich glaube, die haben erst mal über eine halbe Stunde geduscht und waren hinterher kaum wiederzuerkennen. Die waren so froh über die Möglichkeit und das warme Abendessen", beschreibt der Arzt die Szenen dieses Besuchs, und Shymaa Al-Dayyeni erinnert sich, dass sie am zweiten Abend zusammen Spaghetti gekocht und Wein getrunken haben. Ein sehr fröhlicher Austausch sei das gewesen.
Wirklich negative Erfahrungen haben sie in all den Jahren noch keine gemacht. Es sei nur ein Mal jemand da gewesen, bei dem es vom Charakter einfach nicht gepasst habe. Allerdings räumen die beiden auch ein, sie würden nie alleine jemanden beherbergen, weil sie stets dafür sorgten, dass zumindest immer einer von ihnen bei den Gästen bleibe. Durch ihre Berufstätigkeit als Ärzte könne es nämlich schon mal vorkommen, dass einer von ihnen zu einem Notfall raus oder auch früh zum Dienst müsse. Einmal - als sie beide unterwegs gewesen seien - sei es dann auch mal vorgekommen, dass ihre Gäste im Haus gefangen waren, nachdem die Nachbarn die Haustür von außen abgeschlossen hatten .
Anfragen für größere Städte
Ein weiterer der 144 Alsfelder Gastgeber, die ihre "Couch" anbieten, ist Stefan Hädicke. Er beobachte allerdings, dass viele Anfragen, die er bekomme, für Gießen, Fulda oder Marburg seien. Hädicke berichtet, dass er das erste Mal vor fünf Jahren einer Frau Obhut gewährt habe. Diese sei auf der Suche nach ihrem persönlichen Heil gewesen. "Das war eine schöne Begegnung, ich habe ihr Oscar Wilde vorgelesen. Sie blieb dann zwei Nächte", erzählt er.
Eine schlechte Erfahrung habe er hingegen einige Zeit später gemacht. Ein Mann auf der Durchreise kam von Lauterbach nach Alsfeld. Ein wenig skeptisch sei er bei dem Mann, der auf der Durchreise von Lauterbach nach Alsfeld war, von Anfang an gewesen. "Der war ungewaschen, barfuß, langhaarig und hatte nur das Nötigste auf dem Fahrradgepäckträger dabei", blickt Hädicke zurück. Unsympathisch sei er ihm zwar nicht gewesen, allerdings sei es, nachdem der Gast seine Personalien nicht habe angeben wollen, zu einer Uneinigkeit zwischen den beiden gekommen. Hädicke habe dann auch kein Interesse mehr daran gehabt, ihn ins einer Wohnung übernachten zu lassen. "Ich biete einem Fremden meine privaten Räume an und darf nicht mal wissen, wer das ist?", ärgert sich der 58-Jährige noch heute.
Einig sind sich die drei Gastgeber: Alsfeld ist eine sehenswerte Stadt, aber es gebe zu wenig Grund zum Verweilen. Für mehr als zwei Nächte wollten Mahdi und Shymaa Al-Dayyeni aber ohnehin niemanden beherbergen. "Wir wollen auch Zeit mit unseren Gästen verbringen", sagen sie. Am ersten Abend schickten sie ihre Besucher vor der Einkehr immer schon in die Altstadt. Abends würden sie diese dann gerne noch auf eine Runde in ein Schnellrestaurant einladen oder ihr inzwischen fast traditionelles Couchsurfing-Gericht kochen: einen Auflauf mit Hackfleisch. Die beiden aus dem Irak stammenden Wahl-Vogelsberger schätzen vor allem den kulturellen Austausch sowie Gespräche über die Geschichten ihrer Gäste oder tiefgehende Themen, sagen sie und erhoffen sich noch zahlreiche Übernachtungsgäste und lehrreiche Erfahrungen durch Gespräche bei dem ein oder anderen Glas Weißwein. Mahdi Al-Dayyeni resümiert: "Das Leben besteht aus Momenten. Materielles macht uns nicht glücklicher. Aber jeder Mensch ist anders, und das ist wie mit unseren Couchsurfern: Der Austausch über ihre Weltanschauung und Lebenserfahrungen - das ist uns wichtig im Leben. Das gehört zu unseren Werten."