Die Sorge um sich, die Sorge um andere: "Schule im Corona-Modus" heißt ein neues Buch. Es versammelt mehr als 400 Texte und Bilder aus 44 hessischen Schulen, in denen Jungen und Mädchen ihre Eindrücke und Erlebnisse in der Corona-Pandemie zu Papier gebracht haben. Beiträge kommen auch von der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld.
Von Holger Sauer
Redakteur Wetzlar
"Ehrlich und ungeschönt": Tobias Greilich mit dem soeben erschienenen Buch "Schule im Corona-Modus". Foto: Aktion Hessen hilft
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VOGELSBERGKREIS/REGION - Alya hat große Angst, "dass meine Tante, die Krebs hat, das Coronavirus bekommt und stirbt". "Bei den Aufgaben komme ich nur langsam voran, das stresst mich richtig", schreibt Tyler. Während Lisa poetisch wird: "Schule in Zeiten von Corona ist wie ein Schlachthof, nur dass Träume statt Tiere geschlachtet werden." Die Sorge um sich, die Sorge um andere: "Schule im Corona-Modus" heißt ein neues Buch. Es versammelt mehr als 400 Texte und Bilder aus 44 hessischen Schulen, in denen Jungen und Mädchen ihre Eindrücke und Erlebnisse in der Corona-Pandemie zu Papier gebracht haben. Beiträge kommen auch von der Albert-Schweitzer-Schule in Alsfeld. Herausgeber des Buches ist Tobias Greilich aus Ortenberg. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender der "Aktion Hessen hilft".
Die Freude über zusätzliche schulfreie Tage im Lockdown währte offenkundig nur kurz. Schnell war auch der Humor verflogen, mit dem die Schüler noch die Hamsterkäufe von Nudeln oder Toilettenpapier kommentierten. Mit jedem Tag der Ausnahmesituation vermissten sie die Struktur, die Schule und Unterricht ihrem Leben geben, mehr. Vor allem aber fehlte der persönliche Austausch mit Klassenkameraden vor Ort. Sie erlebten, dass Online-Kommunikation diesen nicht ersetzen kann. Langeweile kam auf. Dann Verunsicherung, schließlich Ängste vor dem Alleinsein, vor Vereinsamung, vor einer ungewissen Zukunft. Und Wut: Wut auf den Coronavirus, diesen unsichtbaren Feind.
"Schule im Corona-Modus" gewährt so einen authentischen Einblick in die Gefühlswelten junger Menschen in einer nun schon mehr als einem Jahr währenden Extremsituation und ist gleichsam eine Dokumentation der Kreativität, die Kinder und Jugendliche entwickeln, um ihren Sorgen und Nöten Ausdruck zu verleihen: sei es mit einem Comic, in einem Tagebuch, einem Filmskript, einem Gedicht oder einem Gebet. Im Interview stellt sich Tobias Greilich Fragen zu "Schule im Corona-Modus".
INFO
Die 1995 gegründete "Aktion Hessen hilft" ist als Initiative von Schülern und Jugendlichen für die Opfer des Bürgerkriegs in Jugoslawien entstanden. Seitdem hat der Verein in rund 30 Ländern weltweit humanitäre Hilfe in Krisen-, Katastrophen- und Kriegsgebieten geleistet. Der Verein kooperiert unter anderem mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinen Nationen, Nichtregierungsorganisationen, Generalkonsulaten und Kirchengemeinden. Seit 2013 ist Hessens frühere Kultusministerin Dorothea Henzler Schirmherrin, der von der "Aktion Hessen hilft" ins Leben gerufenen "Hessischen Schulaktion für Menschen in Not". An dieser haben sich bisher mehrere Hundert hessische Schulen mit weit über 100 000 Schülern beteiligt.
Seit 1995 leistet die "Aktion Hessen hilft" weltweit humanitäre Hilfe für Menschen in Not. Jetzt gibt sie das Buch "Schule im Corona-Modus - Eindrücke und Erlebnisse von Schülerinnen und Schülern" heraus. Herr Greilich, Sie sind seit der Gründung Vorsitzender des Vereins, wie entstand die Idee zu dem Buch? Wie fügt sich dieses in das Anliegen des Vereins ein?
Die "Aktion Hessen hilft" ist zu meiner eigenen Schulzeit als Initiative von Schülern und Jugendlichen entstanden, weil uns das Kriegsleid im ehemaligen Jugoslawien erschüttert hatte und wir versuchen wollten zu helfen. Bis heute tragen mehrere Hundert hessische Schulen die "Hessische Schulaktion für Menschen in Not" mit. Seit ich eigene Kinder habe, wurde es mit deren zunehmendem Alter immer wichtiger für mich, durch gemeinsame Projekte mit den Schulen auch den sozialen Horizont der beteiligten Schüler zu erweitern und sie die Welt noch ein Stückchen mehr begreifen zu lassen. In Corona-Zeiten sind Schüler selber "Menschen in Not" - so entstand der Gedanke, sie mit ihren Sorgen und Nöten einmal selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Der Band versammelt Beiträge von Jungen und Mädchen vom Grundschulalter bis zum Abitur aus mehr als 40 Schulen. Wie ist diese große Bandbreite zustande gekommen?
Tatsächlich haben sich Schüler aller Altersklassen und Schulformen aus allen Teilen Hessens mit Beiträgen beteiligt. Teilweise arbeiten wir mit den Schulen schon seit vielen Jahren zusammen, teilweise haben sich neue Partner von der Buchidee angesprochen gefühlt und ihre Schüler zur Teilnahme animiert. Das Besondere ist, dass Beiträge von Grundschülern neben denen von Berufsschülern stehen, von Gymnasiasten neben denen von Förderschülern. Jeder drückt sich auf andere Weise aus, aber in Summe zeigen sie ein unmittelbares Stimmungsbild der hessischen Schülerschaft.
Sie haben sich bewusst gegen eine Bewertung oder Klassifizierung der Beiträge entschieden und auch keine redaktionelle Überarbeitung vorgenommen. Warum?
Uns ist bewusst, dass sich die Beiträge qualitativ unterscheiden, aber uns ging es auch nicht um einen künstlerischen oder literarischen Wettbewerb, sondern wir wollten Kinder und Jugendliche zu Wort kommen lassen - mit ihren Eindrücken und Erlebnissen, ehrlich und ungeschönt, in selbst gewählten künstlerischen Formen, ohne hinderliche Formvorschriften. Wir empfinden gerade diese Vielfalt als Ausdruck von Authentizität - das zeigt sich auch am Ergebnis.
Welche Gefühle haben Sie persönlich während der Arbeit an dem Buch beschäftigt?
Ich war vielfach betroffen. Durch meine eigenen Kinder, durch ihre Freundeskreise, durch zwei Schulen, deren Schulelternbeirat ich vorstehe, war ich ohnehin schon nah dran. Aber in dieser geballten Weise zu sehen und zu lesen, wie sehr die Corona-Krise auf den Schülern lastet, damit hatte ich nicht gerechnet. Dadurch wurde aus der reinen Idee für mich ein Herzensprojekt; die Schülerbeiträge sind sehr persönlich und bewegend und ich finde es absolut wert, sie zu veröffentlichen und dadurch zu bewahren.
Sie haben neben zwei erwachsenen Töchtern einen neunjährigen Sohn. Haben Sie mit ihm über das Buch gesprochen?
Natürlich war das Buch bei uns zu Hause immer wieder Thema. Unser Sohn erlebt den "Corona-Modus" aus der Sicht eines Grundschülers, unsere mittlere Tochter macht unter diesen Bedingungen ihr Abitur. Selbst für unsere große Tochter als Studentin ist nichts mehr, wie es zu Studienbeginn war, und auch wir Eltern sind ja Teil von "Schule im Corona-Modus". Meine Frau und unsere Kinder haben das Buch begleitet und unterstützt, Ideen eingebracht und unser Sohn hat gleich mehrere Beiträge gestaltet. Auch ihm hat es gutgetan, seine Gefühle auf diese Weise ausdrücken zu können.
Und wo würden Sie sich wünschen, dass über "Schule im Corona-Modus" gesprochen wird?
An den Schulen kennt jeder die Auswirkungen der Pandemie und ihrer Einschränkungen. Ich würde mir aber wünschen, dass die Politik noch etwas mehr von den Folgen ihrer Beschlüsse mitbekommen würde. Wer in diesem Schuljahr in die Grundschule eingeschult wurde, kennt im Prinzip keine Schule ohne Maske, kein Toben auf dem Pausenhof, keine tröstende Umarmung einer Lehrkraft, ja nicht einmal täglichen Unterricht in der Schule. Was das mittel- und langfristig mit unseren Kindern macht, ist noch gar nicht abzusehen. Wer das nachfühlen will, bekommt durch die Schülerbeiträge tiefe Einblicke.
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"Schule im Corona-Modus - Eindrücke und Erlebnisse von Schülerinnen und Schülern", herausgegeben von der Aktion Hessen hilft/Tobias Greilich, 464 Seiten, 14,80 Euro. ISBN: 978-3-942347-34-1. Für den Druck eines weiteren Buches bittet der gemeinnützige Verein um Spenden. Der Verein ist erreichbar unter contact@ahh-mail.de.