"Dieser Krieg hätte verhindert werden können", ist Willi Dechert aus Heblos überzeugt. 45 Jahre lang diente er in der Bundeswehr und blickt auf manche Dinge anders, als es...
HEBLOS. "Ich weiß, dass das nur hypothetisch ist. Aber dieser Krieg hätte verhindert werden können", ist Willi Dechert aus Heblos überzeugt. Wie jeder andere verfolgt er im Moment aufmerksam jede Nachricht über den Krieg in der Ukraine. 45 Jahre lang diente er in der Bundeswehr und blickt als ehemaliger Berufssoldat auf manche Dinge anders, als es mancher Zivilist würde. "Ich habe natürlich auch keine anderen Quellen als die Nachrichten. Doch ich verfolge das Geschehen mit großer Sorge und bin beschämt, dass es so weit gekommen ist, denn das aktuelle Geschehen war vorhersehbar. Nahezu alle Experten haben das vorausgesehen. Doch wir haben das mit unserer Beschwichtigungspolitik gegenüber Putin nicht ernst genommen."
Willi Dechert ärgert sich darüber, dass es nun zum Krieg in der Ukraine gekommen ist. "Wir haben gesehen, wie Putin in Syrien Krankenhäuser bombardieren ließ und nicht davor scheute, verheerende Streubomben in Wohngebieten einzusetzen. Wie er in Tschetschenien Städte dem Erdboden gleich gemacht hat. Wie er nicht davor zurückschreckt, Kritiker zu verhaften, zu ermorden, andere Meinungen zu unterdrücken, und versucht, Oppositionelle - Stichwort Nawalny - mit Giftgas auszuschalten. Jetzt völlig überrascht auf Russland zu blicken, ist total blauäugig." Leider, so Dechert, sei der Moment des rechtzeitigen Eingreifens versäumt worden: "Die Annexion der Krim war bereits ein infamer Völkerrechtsbruch, hat bilaterale Vereinbarungen und internationale Verträge gebrochen. 14 000 Menschen starben, zwei Millionen Menschen flohen. Zu diesem Zeitpunkt hätte das jetzige Sanktionsbesteck herausgeholt werden müssen." Dann noch zuzulassen, dass Nordstream 2 gebaut wird, sei ein weiterer Fehler gewesen, denn durch wirtschaftliche Interessen habe sich Deutschland noch im höheren Maße von Russland abhängig gemacht. Und hybride Kriegsführung - Cyberkrieg, um zum Beispiel Wahlen zu beeinflussen - das sei schon seit zehn Jahren quasi gang und gäbe. "Der Krieg heute ist ein Resultat verfehlter Politik, vor allem der deutschen. Denn man hätte viel früher konsequent handeln und die Entwicklungen ernst nehmen müssen."
Willi Dechert spricht deutlich aus, was viele denken: "Putin ist skrupellos und schreckt vor nichts zurück. Die Staatspropaganda beeinflusst die Menschen, die Lüge ist Teil des Systems. Und er beherrscht das Spiel mit der Angst." Sehr großen Respekt hat der frühere Berufssoldat vor den Menschen, die in Russland gegen den Krieg demonstrieren. "Es ist nicht die Masse wie bei Maidan, um etwas zu bewegen. Aber die Menschen riskieren sehr viel dafür, sich gegen Putin auszusprechen." Putin, der kein Land so kenne wie Deutschland, pflege die Propaganda-Erzählung von der Nato als Feind. "Dabei ist das ein reines Verteidigungsbündnis. Was er jedoch fürchtet, ist die Demokratie", meint Willi Dechert. Das sei bereits an den aufkeimenden demokratischen Bewegungen vor einiger Zeit in Belarus zu sehen gewesen. "Er möchte am liebsten Amerika aus Europa rausdrängen, die Nato und die EU spalten und die alte Sowjetunion wieder herstellen, damit er quasi der größte Herrscher ist." Willi Dechert war 2017 dienstlich in Litauen: "Die haben ein ganz anderes Bedrohungsempfinden. Daher suchten sie, wie auch alle anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, Schutz bei der Nato und traten dem Bündnis bei. Was auch dem Selbstbestimmungsrecht eines jeden Staates entspricht, frei zu entscheiden, mit wem man sich verbünden möchte. Alles diese Staaten haben Angst vor dem Joch Putins."
Mit Sorge blickt Willi Dechert auch auf den über 60 Kilometer langen russischen Armee-Konvoi. "Es gibt militärisch gesehen kein besseres Ziel", weiß er aus Erfahrung. Dass dennoch nichts geschehe, bedeute, dass die ukrainische Armee nicht die Möglichkeit habe, den Konvoi anzugreifen, da die Luftwaffe ausgeschaltet sei. Denn leider, da gebe es nichts zu beschönigen, sei das russische Militär dem ukrainischen in der Ausstattung haushoch überlegen - auch wenn der unbedingte Wille der Ukrainer, ihr Land und ihre Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen, unglaublich sei. "Diese ganze Tragödie ist erschütternd. Sie bewegt mich sehr, macht mich aber auch wütend."
Dass die Bundeswehr nun mit 100 Milliarden Euro unterstützt werden soll, begrüßt Willi Dechert. "Es wird überall von der Aufrüstung der Bundeswehr geschrieben. Das ist nicht richtig", betont er ausdrücklich. "Es geht hier um das Wiederherstellen der Einsatzbereitschaft Bundeswehr als Ganzes. Darum, Ausrüstungslücken zu schließen und die Bundeswehr zu modernisieren. Eine Aufrüstung würde bedeuten, dass sie größer würde. Das ist nicht der Fall." Der Umschwung Deutschlands, Waffen zu liefern und die Bundeswehr wieder besser auszustatten, sei ein absoluter Paradigmenwechsel.
Die Reduzierung des Militärs damals nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Warschauer Pakt und der Wiedervereinigung sei richtig gewesen, blickt Willi Dechert zurück. "Dann kam 9/11, und der Schwerpunkt verlagerte sich auf die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan. Problem war, dass die Landesverteidigung sträflich vernachlässigt wurde. Es wurde weniger Geld investiert, das politische Mindset war, Frieden zu schaffen durch Reden und Dialog. Die Mehrheit in Deutschland hat sich in unserer Komfortgesellschaft nicht für die Bundeswehr interessiert." Es sei sehr bedauerlich, dass es für eine Neupositionierung der Verteidigung und der Sicherheitspolitik erst zu einem Krieg habe kommen müssen. Nun aber gelte es, mit Plan vorzugehen: "Geld ist das eine. Das Ziel muss sein, die Bundeswehr wieder einsatzbereit zu machen. Dieses Herstellen der Einsatzbereitschaft kostet aber Zeit. Es braucht neue Strukturen, eine Entbürokratisierung und ein reformiertes Beschaffungswesen. Das sind die drei Hauptbereiche. Aber, auch das muss klar sein: Was 25 Jahre versäumt wurde, ist nicht in zwei Jahren aufzuholen."
Und wie schätzt Willi Dechert die Bedrohung durch Atomraketen sein? "Atomwaffen sind politische Waffen. Das Gleichgewicht des Schreckens - so wurde es im Kalten Krieg genannt - bedeutete: Wer als erster schießt, stirbt als zweites. Das hat so lange funktioniert, wie es auf beiden Seiten Menschen gab, die rational gedacht haben. Das hat uns bis heute den Frieden in Europa gesichert." Daher hoffe er sehr, dass bei Putin noch eine Rest-Rationalität vorhanden sei. "Er spielt mit der Angst, seine Taktik ist auch die der Verwirrung. Der Gegner soll nicht wissen, was er vorhat und wie weit er gehen wird."
Auch wenn es niemand mit Gewissheit ausschließen könnte, glaubt Willi Dechert nicht an einen atomaren Angriff. Er hoffe, dass die unter Sanktionen stehenden Oligarchen einen positiven Einfluss auf Putin ausüben könnten, auch China in der Rolle eines Vermittlers könne er sich vorstellen. "Ich denke auch, dass es hinter den Kulissen noch Gesprächskanäle gibt, die sich alle offen halten - auch in Richtung Amerika. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt einfach alles so laufengelassen wird."
Einen Blick in die Zukunft zu wagen, ist in solchen Zeiten schwierig. "Natürlich sind wir alle in Gedanken ständig am Thema dran. Doch ich sehe auch versierte Strategen und ausgewiesene Russland-Kenner, die in Interviews um Lösungen ringen", sagt Willi Dechert und ist sich sicher: "Der Krieg wird Auswirkungen auf jede Familie haben. Wegen Flucht und Vertreibung sowieso, aber auch wegen steigender Energiepreise und Lebenshaltungskosten. Und das wird nicht in drei Monaten vorbeisein." Für die Zukunft würde er sich wünschen, was die internationalen Beziehungen zwischen der Nato und Russland betrifft, dass wieder ein Schritt zurück zur Rüstungskontrolle gemacht werde, dass es vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich gebe wie gegenseitige Manöverbeobachtungen oder Open Sky - die Möglichkeit, Luftaufnahmen von militärischen Stützpunkten des anderen Landes machen zu können. "Und natürlich einen Dialog, der aber auch auf einer glaubwürdigen Verteidigung beruht. Ich bedauere sehr, dass unsere Erfahrungen, die wir damals mit dem Nato-Doppelbeschluss gemacht haben, mit Füßen getreten wurden. Aber das kann sich ja ändern. Ich würde mir auf jeden Fall einen stabilen Vorsorgestaat wünschen, der präventiv handelt und in der in Krisen handlungsfähig ist, weil er in Schlüsselfunktionen wie zum Beispiel der Energieversorgung und noch einigen weiteren Bereichen autark ist."