Kim Bui: Ich habe ein Doppelleben geführt

Kim Bui liest aus ihrem Buch "45 Sekunden" in Lauterbach. Heiko Potthoff

Kim Bui, eine der erfolgreichsten deutschen Turnerinnen, spricht im Vorfeld ihrer Lesung in Lauterbach über ihre Laufbahn, Scham, Schmerzen und den schönsten Sport der Welt. 

Anzeige

LAUTERBACH. Kim Bui (34 Jahre) aus Stuttgart ist eine der erfolgreichsten deutschen Turnerinnen der vergangenen Jahrzehnte. Über 20 Jahre turnte sie ununterbrochen im Bundeskader, nahm an drei Olympischen Spielen, zahlreichen Welt- und Europameisterschaften teil, gewann drei Bronzemedaillen bei Europameisterschaften sowie beinahe 30 Medaillen bei Deutschen Meisterschaften. Ihr Buch "45 Sekunden", ein "Spiegel-Bestseller", schlägt in den Medien Wellen wie selten zuvor das Buch einer Sportlerin. Vor ihrer Lesung am Freitag, 2. Juni, ab 20 Uhr, im Rahmen der Reihe "Der Vulkan lässt lesen" in Lauterbach in der Aula der Sparkasse Oberhessen spricht sie über Leistungsdruck, ihrer Bulimie und ihre Identität.

Warum sind Sie mit Ihrer bewegten und bewegenden Geschichte erst nach Ihrem Rückzug aus dem Leistungssport an die Öffentlichkeit getreten?

In den vergangenen Jahren kam mir nie der Gedanke, ich wäre auch überhaupt nicht dazu bereit gewesen. Allein schon aus der Unsicherheit, wie mein Umfeld das aufnehmen, mit welchen Konsequenzen ich konfrontiert würde. Klar, da war auch der Gedanke, dass ich möglicherweise meine Laufbahn aufs Spiel setzen könnte.

Anzeige

Sie beschreiben einerseits, Turnen sei für sie die schönste Sportart der Welt ...

... das ist es noch immer, allein wegen der ungeheuren Komplexität dieses Sports ...

... andererseits beschreiben Sie die unglaublichen Qualen und den Verzicht, den es bedarf, um in der Weltspitze mitmischen zu können. Das klingt ein wenig wie eine Hassliebe.

Mag sein. An einer Stelle schreibe ich, es ist die Rückseite der Erfolgsmedaille, die das Publikum nicht so gerne sieht, von der es in der Regel auch nicht viel wissen will. Beispielsweise, dass ein großer Teil meiner Kindheit und Jugend in der Turnhalle stattgefunden hat. Bei fünf Stunden Training am Tag waren Klassenfahrten und Partys eben nicht drin. Entscheidend war - und das ist mit meinem Rücktritt gewissermaßen der Ausbruch aus diesem System gewesen - dass ich funktioniert habe.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Anzeige

Mein Leben war durchgetaktet, ich hatte nicht viel zu entscheiden, Widerworte gab es nicht. Ich kam morgens in die Turnhalle, sah den Plan mit dem Trainingspensum und nur vom Anschauen kamen mir oft die Tränen, da ich wusste, das schaffe ich nicht. Wenn ich mal einen schlechten Tag hatte und die vorgegebenen Übungen nicht hinhauten, sagte die Trainerin: "Wir haben Zeit, du versuchst das so lange, bis du die Übung fehlerfrei turnst." Tränen, Schmerzen - zählen nicht. Zu viele Schmerzen: Dann wirfst du eben noch ein Ibu ein.

Sie haben vieles für Ihre Laufbahn getan und in Kauf genommen, was für Außenstehende nicht einfach zu verstehen ist. Etwa eine Bulimie. Wie kam es zu der Essstörung?

Früher wurde man regelmäßig gewogen. Und irgendwann fiel mal der Satz einer Trainerin, ich solle doch etwas auf mein Gewicht achten, dann fielen mir die Übungen auch leichter. Da war ich 15, 16 Jahre. Und in der Pubertät verändert sich doch der Körper so oder so. Jedenfalls nahm ich mir den Satz zu Herzen. Wenn mir eine Übung schwer fiel, ging mir sofort der Satz durch den Kopf: Ich bin zu dick. Ich liebe aber nun mal das Essen. Also aß ich weiter und erbrach mich, um das Essen wieder loszuwerden.

Man kann sich vorstellen, dass Ihre Gefühle in dieser Zeit Achterbahn gefahren sind.

Das ist gelinde ausgedrückt. Ich führte gewissermaßen ein Doppelleben. Weiter Schule und Training, was auch wunderbar klappte, andererseits immer einen Blick dorthin, wo ich mich - zweimal, dreimal täglich - würde übergeben können, was in dem Moment, in dem ich es tat, selbst immer ein befreiendes Gefühl war. Natürlich wusste ich, dass das nicht richtig ist. Es war eine Mischung aus Ekel und Scham.

Letztlich hat Sie eine Trainerin aus dieser Situation gerettet.

Genau. Sie bekam das mit, stellte mich und sagte: Ich weiß, was du machst, und will, dass du dir professionelle Hilfe suchst. Das habe ich dann auch getan, mit 17 Jahren. Es hat dann rund vier Jahre gedauert, bis ich von der Bulimie befreit war.

Ihr Buch fällt durch seinen Facettenreichtum auf. Sie schreiben über Sexismus im Sport, darüber, dass kaum ein Leistungssportler davon leben kann, von Ihrem jahrelangen Versuch, sich selbst zu genügen, von einem verkrusteten System, das sich selbst im Weg steht, das Sie gerne helfen würden zu verbessern und sie fordern nachdrücklich Respekt für Leistung an sich. Interessant ist auch die Thematik, die man heute unter dem Begriff "Identität" zusammenfassen würde.

Darum komme ich bei einer ehrlichen Betrachtung meines Lebens nicht herum. Meine Eltern kamen als Boots-Flüchtlinge aus Vietnam und Laos nach Deutschland. Ich ziehe heute noch den Hut vor ihrer Leistung und bin sehr dankbar, was sie für meinen Bruder und mich aufgebaut haben. Aber die Erziehung war geprägt durch die Anpassung an das deutsche Leben und den Anspruch, die denkbar beste schulische Qualifikation zu erreichen. Ein geflügeltes Wort meines Vaters, wenn ich in einer Klassenarbeit eine Zwei erreicht hatte: Eine Eins wäre besser gewesen. Disziplin, nicht unangenehm auffallen, keine Gefühle in der Öffentlichkeit zeigen, das war wichtig.

Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es Perfektion im Sport nicht gibt. Aber Ihren Abgang im vergangenen August bei den Europameisterschaften bezeichnen Sie als perfekt.

Es war tatsächlich der perfekte Schlusspunkt. Noch mal eine Bronzemedaille mit der Mannschaft und dann dieses fantastische Publikum, das mich so richtig abgefeiert hat. Da empfand ich zum ersten Mal so etwas wie eine ehrliche Wertschätzung. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. *

Karten für die Lesung gibt es für 12 Euro im Vorverkauf bei der Ovag unter der Telefonnummer 06031-68481113, der Sparkasse Oberhessen und in den Buchhandlungen "Lesezeichen" in Lauterbach sowie "Lesenswert" (Alsfeld) sowie im Internet unter www.adticket.de.