"Beschwichtigen heißt, ein Krokodil zu füttern, in der Hoffnung, dass es einen zuletzt frisst": Die Russland-Korrespondentin und Autorin Sabine Adler analysiert in Lauterbach...
LAUTERBACH. Lauterbach (ruk). Es war nicht die angekündigte Buchvorstellung, dafür eine wegweisende Geschichtsstunde zum Ukraine-Krieg mit interaktiver Fragerunde und großem Informationsgehalt für die Zukunft, den der Soroptimist International (SI) Club Lauterbach-Vogelsberg im Rahmen der "Nie wieder Krieg"-Aktion kostenfrei bot. Wer im Posthotel Johannesberg die vollbesetzte Veranstaltung um Autorin Sabine Adler und ihr Buch "Die Ukraine und wir" erlebt hatte, ging mindestens mit der Wissensbasis zu einer fundierten Meinung um den Ukrainekrieg.
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"Ich wollte keinen Vortrag halten, aber das wird jetzt ein Vortrag", eröffnete Sabine Adler auf die erste Frage, ob Deutschland mit schuld an dem Krieg sei. Und es war viel, was sie in rund zwei Stunden packte. Die 1963 in Zörbig geborene ehemalige Russland- und Osteuropa-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Chefin des Hauptstadtstudios und Leiterin von Presse und Kommunikation des Deutschen Bundestages hat seit 2012 viel aus der Ukraine berichtet und gehört jetzt zum Team des Deutschlandfunks, das detailliert über den Kriegsverlauf informiert - und ist an Erfahrung und Fachwissen zum Thema damit vermutlich schwer zu überbieten. Sie erlebte sämtliche außenpolitische Entscheidungen des Westens und die Reaktionen im Osten, vom Amtsantritt Putins über den zweiten Tschetschenienkrieg, die Orange Revolution 2004 und die Maidan-Protestbewegung in der Ukraine, die im Februar 2014 eskalierte. "Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen und bin über acht Tote gestiegen" erzählte sie. Als Journalistin ist sie seit 25 Jahren live im Geschehen.
Nach der persönlichen Vorstellung durch die lokale SI-Club Präsidentin Barbara Peters wagte sich Adler direkt an die kritischen Fragestellungen. Nach Adler hätte Deutschland den Krieg nicht verhindern können, hat aber Entscheidungen getroffen, die der Ukraine zum Verhängnis wurden. Dazu gehörte die Ablehnung der Bitte der Ukraine und Georgiens im April 2008, der Nato beizutreten. Die die damalige Kanzlerin Angela Merkel noch heute rechtfertigt. Eine Aufnahme der beiden Ex-Sowjetrepubliken hätte Putin ihrer Meinung nach als "eine Kriegserklärung" aufgefasst. Allerdings griff Russland noch 2008 Georgien militärisch an, trotz der Absage der NATO an Kiew und Tiflis. Eine Disziplinarmaßnahme, in deren Folge Moskau die georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten anerkannte. Das Muster sei somit vor mehr als zehn Jahren schon deutlich gewesen: Landverzicht gegen Frieden. Mit Putins Machtantritt habe es einen rasanten Demokratieabbau in Russland gegeben, ein neuer Ost-West-Konflikt sei hier schon deutlich gewesen, wie auch Putins Haltung zur Politik der ehemaligen Sowjetstaaten. Deutschlands Position? 2005 planten Putin und Schröder, später dann Merkel, gegen alle Warnungen der Balten, der USA, Polens und der Ukraine die Ostsee-Gas-Pipeline Nordstream von Russland nach Deutschland. Mitten im Krieg in der Ostukraine wurde sogar noch ein zweiter Strang verabredet. DieBundesregierung verhalf Putin, das Gas-Transitland Ukraine obsolet zu machen. Die Einnahmen aus den gestiegenen Öl- und Gasverkäufen nach Deutschland befähigten Russland, seine veraltete Armee zu modernisieren und die militärische Aufrüstung zu finanzieren, so die Referentin. Es habe viele Möglichkeiten für Deutschland zu reagieren gegeben, betont Adler, aber man habe die Hochrüstung von Russland nur beobachtet.
Weil prowestliche Politiker wie Wiktor Juschtschenko und Julija Tymoschenko lange lieber untereinander stritten, als sich mit ihrem Gegner auseinanderzusetzten, den porussischen Wiktor Janukowytsch, hätten sie die Wahl gegen ihn verloren. Janukowytsch erklärte der NATO-Mitgliedschaft und dem Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union eine Absage, was viele Ukrainer nicht akzeptierten. "Die Bevölkerung hat dieses Mal gesagt: 'Wir weichen nicht, wir wollen nicht noch einmal zehn Jahre auf eine neue Chance warten'", berichtete Adler. Es kam zu anhaltenden Massenkundgebungen für den EU-Beitritt ("Euromaidan"). Nach der Eskalation der Gewalt, nachdem Präsident Janukowytsch auf Demonstranten schießen ließ, um die Proteste zu beenden, floh er schließlich nach Russland. Russland stellte die Ereignisse 2014 als Putsch dar. Wovon keine Rede sein könne, schließlich habe das frei gewählte Parlament eine neue Übergangsregierung gebildet und einen Übergangspräsidenten ernannt, die bis zu den alsbald anberaumten Neuwahlen im Amt geblieben seien. Nur zwei Tage nachdem sich Janukowytsch nach Russland abgesetzt hatte, ließ Putin die ukrainische Krim annektieren. Der Westen sah zu und wartete ab. Adler berichtet, Putin habe moskautreue Beobachter in das Krim-Parlament geschleust und aktiv dafür gesorgt, dass nur ein Teil der Abgeordneten zu der Abstimmung vorgelassen wurde, bei der man die Zugehörigkeit zu Russland beschließen wollte. "Andere kamen gar nicht hinein", erzählt die Journalistin. Im ganzen Land habe es Demonstrationen gegeben. Russische "Zivilisten", die vom russischen Geheimdienst FSB angeheuert wurden oder ihm angehörten, seien in die Ostukraine gereist, um dort die Städte "aufzumischen". Die heftigsten Aufstände habe es innerhalb des Donbass gegeben, "den sich die Ukrainer nicht so leicht wegnehmen lassen wollten wie die Krim, wo es keinerlei militärischen Widerstand gegen die Okkupation gegeben hatte", so Adler. Die ukrainische Armee verteidigte gemeinsam mit der eilig gebildeten Nationalgarde und zahlreichen Freiwilligenverbänden das ukrainische Territorium. Sogenannte ostukrainische Separatisten erhielten massive militärische Unterstützung von Moskau, das den Krieg in der Ostukraine über Jahre anheizte. "Ein Drittel der Bevölkerung des Donbass, rund zwei Millionen Menschen flohen in westliche Landesteile. Bis zur russischen Invasion am 24. Februar hat der Krieg in der Ostukraine 13.000 Menschen das Leben gekostet, aber in Deutschland sprach man bis dahin fast ausschließlich von 'Konflikt', bedauerte die Journalistin, die viele Male von der Frontlinie im Osten berichtete. Dem nicht genug. "Die absolut wirkungslosen EU-Sanktionen haben Putin sogar angefeuert weiterzumachen: Er wusste jetzt, dass ihm trotz eines Angriffskrieges keine Gefahr droht", mahnte Adler. Besonders wies sie darauf hin, dass man im Juli 2021 Putins Meinung habe genau nachlesen können: In einem Aufsatz hatte er offen erklärt, dass die Ukrainer die "kleinen Russen" seien, (neben den Großrussen in der Russischen Föderation und den Belarussen in Belarus), dass es keine ukrainische Sprache, keine eigene ukrainische Kultur gäbe. Wie die Belarussen gehörten für ihn auch die Ukrainer zu Russland. Für Militärangehörige sei der Putin-Aufsatz zur Pflichtlektüre erklärt worden. Hilferufe der Ukraine habe man in Deutschland ignoriert, obwohl ein größerer Krieg auf der Hand gelegen habe, denn Moskau stationierte 2021 immer mehr Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze.
In einer umfangreichen Diskussionsrunde wurden die wichtigsten Fragen beantwortet. So stellte Adler klar, dass Deutschland als Friedensvermittler kaum in Frage komme, weil es ungeachtet des Krieges in der Ostukraine 2015 mit Moskau das Projekt Nordstream 2 verabredet hat. Dieses Signal an Putin habe in der Ukraine Entsetzen ausgelöst. Aber Deutschland könne jetzt zumindest bei der Suche nach einem Vermittler helfen. Auf die Frage, warum Kiew momentan nicht zu einem Friedensschluss bereit ist, sagte die Buchautorin, dass die Ukrainer kaum ein weiteres Mal Teile ihres Landes gegen einen Frieden eintauschen würden, den der Kreml ohnehin nicht einhalten werde. Die ukrainische Bevölkerung habe die Erfahrung gemacht, dass russische Besatzer ihre Herrschaft mit Terror sicherten, mit illegalen Gefängnissen, in denen Menschen ohne Urteil inhaftiert, gefoltert und ermordet würden, wie in der Ostukraine seit 2014 zu erleben war, außerdem in Butscha, Mariupol und vielen anderen von russischen Kräften besetzten Orten. Das müsse nun unbedingt verhindert werden. Auch deshalb sei eine langfristige deutsche Unterstützung nötig. Gut sei: Putin habe entgegen seiner Erwartungen Indien und China nicht uneingeschränkt an seiner Seite und er scheue eine Generalmobilmachung. Die aktuellen Sanktionen kämen in Russland an, so erklärte Adler. Bei dem kürzlichen Wirtschaftstreffen in Wladiwostok habe man Putin so wütend wie selten zuvor erlebt: "Die Sanktionen treffen ihn und sind richtig!" Den Wunsch nach Lockerungen der Sanktionen zugunsten besserer Gaspreise im Herbst beantwortete sie mit Winston Churchill: "Das wäre Appeasement-Politik, Beschwichtigung. Beschwichtigen hieße, ein Krokodil zu füttern, mit allem was man hat, in der Hoffnung, dass es einen zuletzt frisst." Die Einnahmen würden zudem Russlands Krieg finanzieren. Adler stellte abschließend klar: "Einen Kriegstreiber wie Putin kann man nicht aufhalten, indem man klein beigibt. Wenn wir uns jetzt wegen der Gaspreise zerstreiten und der Ukraine die Unterstützung versagen, können wir selbst als nächste zum Ziel werden."