Die Corona-Infektionszahlen steigen in Deutschland stark. Bund und Länder beschließen schärfere Maßnahmen und Einschnitte. Doch die Bundeskanzlerin ist unzufrieden.
BERLIN. Aus Sorge vor einer unkontrollierbaren Ausbreitung der Corona-Pandemie mit unabsehbaren Folgen für Bürger und Wirtschaft verschärfen Bund und Länder die Gegenmaßnahmen in Hotspots. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten verständigten sich am Mittwoch auf einheitliche Regeln für Städte und Regionen mit hohen Infektionszahlen. Dazu gehören eine Ausweitung der Maskenpflicht, eine Begrenzung der Gästezahl bei privaten Feiern, Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und eine Sperrstunde für die Gastronomie.
Merkel war nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur mit den Beschlüssen jedoch unzufrieden und kritisierte sie massiv. "Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden", sagte die CDU-Politikerin nach übereinstimmenden Angaben von Teilnehmern am Mittwochabend während der Sitzung. Mit den nun festgelegten Maßnahmen würden Bund und Länder in zwei Wochen eben wieder hier sitzen. "Es reicht einfach nicht, was wir hier machen." Die Grundstimmung sei, dass sich jedes Land ein kleines Schlupfloch suche. "Das ist das, was mich bekümmert. Und die Liste der Gesundheitsämter, die es nicht schafft, wird immer länger."
Die neuen Beschlüsse:
MASKENPFLICHT: Bei steigenden Infektionszahlen und spätestens ab 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern soll eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum überall dort gelten, wo Menschen dichter oder länger zusammenkommen.
SPERRSTUNDE: Bund und Länder empfehlen, dass in diesen Regionen eine Sperrstunde für die Gastronomie eingeführt wird. Eine Uhrzeit wird nicht genannt.
VERANSTALTUNGEN: In den betroffenen Regionen soll die Zahl der Teilnehmer bei Veranstaltungen weiter begrenzt werden. Auch hier wird keine Zahl genannt.
PRIVATE FEIERN: Alle Bürger sollen genau abwägen, ob eine private Feier notwendig und vertretbar ist. In Regionen mit 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern gelten Teilnehmergrenzen: 25 Menschen im öffentlichen und 15 im privaten Raum. Einige Bundesländer wollen die Beschränkungen für den privaten Raum allerdings nur als Empfehlung formulieren. Sachsen will seine Regeln nicht ändern.
HOTSPOTS: In Regionen mit 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern greifen noch schärfere Regeln. Dazu gehört neben einer Maskenpflicht, dass sich im öffentlichen Raum nur noch 10 Personen treffen dürfen. Die Gastronomie soll ab 23 Uhr schließen und keinen Alkohol mehr ausgeben dürfen. Bei Feiern dürfen in der Öffentlichkeit 10 Menschen zusammenkommen, im privaten Raum maximal 10 Leute aus höchstens zwei Haushalten. Veranstaltungen werden auf 100 Teilnehmer beschränkt.
ULTIMATUM: Kommt der Anstieg der Infektionszahlen mit den genannten Maßnahmen nicht innerhalb von zehn Tagen zum Stillstand, sollen Kontakte strikt reduziert werden: Im öffentlichen Raum dürfen sich dann nur noch fünf Menschen oder Angehörige zweier Haushalte treffen.
INLANDSREISEN: Bund und Länder fordern alle Bürger auf, nicht erforderliche innerdeutsche Reisen in und aus Gebieten mit hohen Infektionszahlen zu vermeiden. Die derzeit geltenden Einschränkungen für Übernachtungen in Hotels und Pensionen in einigen Bundesländern sollen am 8. November neu bewertet werden.
WIRTSCHAFT: Unternehmen, die erhebliche Einschränkungen ihres Geschäftsbetriebes hinnehmen müssen, sollen zusätzliche Hilfen bekommen.
SCHNELLTESTS: Der Bund übernimmt die Kosten für regelmäßige Schnelltests von Patienten, Besuchern und Personal in Krankenhäusern, sowie Bewohnern, Besuchern und Beschäftigten in Pflege-, Senioren- und Behinderteneinrichtungen.
AUSLANDSREISEN: Ab dem 8. November sollen neue Regeln für Einreisen aus ausländischen Risikogebieten gelten: Reisende ohne triftigen Reisegrund müssen dann zehn Tage lang in Quarantäne, können sich ab dem 5. Tag aber frei testen. Für notwendige Reisen und Pendler soll es Ausnahmen geben.
Erstes persönliches Treffen seit Juni
Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten waren erstmals seit Juni wieder persönlich zusammengekommen und berieten nicht nur per Videokonferenz. Das Treffen stand unter dem Eindruck massiv steigender Infektionszahlen in Deutschland und zum Teil noch dramatischerer Entwicklungen bei vielen europäischen Nachbarn. Hierzulande wurden nach Angaben des Robert Koch-Instituts vom Mittwoch aktuell 5132 Neuinfektionen gemeldet - so viele wie seit Mitte April nicht mehr.
Der Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Michael Meyer-Hermann, warnte bei dem Treffen eindringlich vor einem Kontrollverlust bei den Infektionen. "Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff noch zu drehen", sagte er laut Teilnehmern im Kanzleramt. Deutschland stehe an der Schwelle zu einem exponentiellen Wachstum. Zur Verdeutlichung zeigte der Wissenschaftler eine Simulation, wie sich das Infektionsgeschehen ohne ein Gegensteuern der Politik entwickeln würde.
Merkel forderte die Länder in der Sitzung zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung im Kampf gegen das Virus auf. "Wollen wir einen beherzten Schritt machen, oder uns wieder Woche für Woche treffen wie im Frühjahr", sagte die CDU-Politikerin nach Angaben von Teilnehmern. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) warnte demnach: "Wenn wir nichts spürbar beschließen, ist der nächste Lockdown unvermeidlich. Wir sind von Hochrisikogebieten umgeben in Deutschland. Das Gefährdungspotenzial ist riesig."
Regierungssprecher Steffen Seibert war von schwierigen Verhandlungen ausgegangen: "Einheitlichkeit ist wünschenswert. Aber Einheitlichkeit ist auch kein Selbstzweck, und es ist nicht gesichert, dass alle Teilnehmer heute zu gleichen Überzeugungen kommen", sagte er.
Zweiten Lockdown verhindern
Wirtschaft, Ökonomen und Kommunen machten vor den Beratungen Druck auf Bund und Länder, ihr Vorgehen besser zu koordinieren und zu vereinheitlichen - insbesondere bei den Beherbergungsverboten. Der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft warnte vor einem zweiten Lockdown der Branche durch die Hintertür. Notwendig seien "weniger Aktionismus, mehr Augenmaß und ein Ende der Stigmatisierung des Reisens", sagte Verbandspräsident Michael Frenzel. "Die Tourismusbranche und ihre Gäste brauchen endlich verlässliche, verständliche und vor allem verhältnismäßige Regelungen."
Auch führende Ökonomen verlangten mehr Einheitlichkeit. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte dem "Handelsblatt", dass der Schutz von Gesundheit und Wirtschaft ein "hohes Vertrauen der großen Mehrheit der Menschen" brauche. "Dies erfordert Regeln, die nachvollziehbar und zu einem gewissen Maße damit auch einheitlich sind."
Unterdessen plant Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) weitere Hilfen für besonders hart von Corona-Maßnahmen getroffene Unternehmen. Die bisher bis zum Jahresende laufenden Überbrückungshilfen sollen um ein halbes Jahr bis zum 30. Juni 2021 verlängert werden. Die Wirtschaftsleistung in Deutschland war im zweiten Quartal eingebrochen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab am Mittwoch in Berlin bekannt, dass die neue Corona-Testverordnung an diesem Donnerstag in Kraft treten werde. Corona-Tests sollen damit künftig stärker auf Risikogruppen und das Gesundheitswesen konzentriert werden - weniger auf Reiserückkehrer.
Von dpa