In der Region starten Hilfskonvois Richtung ukrainische Grenze. Was erwartet sie dort? Chefredakteur Friedrich Roeingh hat den ersten großen Hilfskonvoi aus Mainz begleitet.
MEDYKA. Angekommen. Hunderte Flüchtlinge haben in den vergangenen Stunden den polnischen Grenzübergang Medyka erreicht. Ihre Wohnungen, ihre Männer, ihre Väter haben sie zurückgelassen. Medyka ist einer von Dutzenden ukrainischen Grenzübergängen nach Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien, an denen sich täglich und auch zu jeder Nachtzeit die gleichen Szenen abspielen. Und es ist natürlich kein Ankommen. Es ist nur ein sich in Sicherheit bringen.
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Die Brutalität, mit der Wladimir Putins Streitkräfte den Krieg gegen die Menschen in der Ukraine und gegen ihr freiheitliches Verständnis von Heimat führen, spiegelt sich in den unaufhörlich wachsenden Zahlen der Flüchtlinge wider. Allein Polen soll inzwischen weit mehr als 700.000 aufgenommen haben - wahrscheinlich ist die Zahl längst überholt. Die Ohnmacht, die die Nachrichten und die Bilder vom Krieg bei den Menschen in Westeuropa auslösen, bricht sich in einer Welle der Hilfsbereitschaft Bahn. Der Autor hat einen Hilfskonvoi aus Mainz begleitet, um für die Leser der VRM-Zeitungen nachvollziehbar zu machen, ob und wie man sinnvoll helfen kann.
Ankunft am Grenzübergang nach 14 Stunden
Das Mainzer Bündnis aus mehreren Organisationen - dem Ukrainischen Verein, den Maltesern, „Mombach hilft“ und den lokalen Lionsclubs - hatte binnen Tagen einen 40-Tonner zusammengestellt. Schlafsäcke, Isomatten, Decken, Verbandsmaterial, Medikamente, Babynahrung, verpackte und haltbare Lebensmittel, Taschenlampen, Batterien, Powerbanks - sortenrein in hunderten von Kisten verpackt und zweisprachig beschriftet. Nicht für die Flüchtlinge, die von den aufnehmenden Ländern und der EU versorgt werden. Die Hilfe soll die Menschen erreichen, die in der Ukraine kämpfen und ausharren, ausharren müssen. Wenn möglich nach Kiew und Charkiw und in andere umlagerte oder bereits eingeschlossene Städte. Kann das gelingen?
Freitagmorgen, 8.30 Uhr. Ankunft am Grenzübergang Medyka nach 15 Stunden Fahrt und einer fünfstündigen Hotelnacht. Trucker Jörg Heß, der für diese Hilfstour drei Tage Urlaub genommen hat, wird mit seinem voll beladenen 40-Tonner noch drei Stunden unterwegs sein. Hier in Medyka herrscht das vermeintliche Chaos, wenn Elend auf Hilfe trifft. Hunderte suchen, stehen, sitzen, trinken, essen, warten. Irgendwie funktionieren, nur nicht nachdenken, scheinen die leeren Augen derer zu sagen, die allesamt die Grenze zu Fuß passiert haben.
Beim Berichten von vor Ort fließen Tränen
Dieser Selbstschutz fällt meist, sobald man die Ankommenden anspricht. „Wir sind vor einer halben Stunde durchgekommen“, berichtet Tatjana Blassowa - das halbjährige Baby im Arm. Zu viert sind sie vor zwei Tagen aus Dnipropetrowsk aufgebrochen, auch ihre Mutter und ihre Schwester. Tatjanas Mann und ihr Vater sind geblieben. In ihrer Heimatstadt sei das Kriegsgeschehen zum Glück noch nicht richtig angekommen.
Doch als die junge Frau berichten will, was sie auf dem Weg zur Grenze in anderen Städten gesehen haben, kommen die Tränen. Sie lenkt das Gespräch lieber auf die Hilfsbereitschaft, die ihnen hier in Polen zuteil wird. Das muss sie loswerden. Das hilft ihr, die Fassung zurückzugewinnen.
So stellte sich die Situation an der Grenze am Freitag dar:
Auf der Flucht hat Tatjana das Baby nur stillen können. Hier an der Grenze hat sie zwölf Gläschen Babynahrung bekommen. Sie können sich alle stärken, wenn nötig mit Kleidung versorgen. Kostenlose SIM-Karten werden ausgegeben, bevor es irgendwann im Laufe dieses Tages mit dem Bus zu einem zentralen Sammellager weitergeht.
Leid, Elend und Ängste um Väter allgegenwärtig
Irina Kowskary und ihre 20-jährige Tochter Lisa sind aus Charkiw geflohen - die bisher am stärksten verwüstete ukrainische Großstadt. Lisas flauschiges Kätzchen, das aus ihrer Daunen-Jacke hervorlugt, steht im denkbar größten Kontrast zu der Not und dem Leid, dem Mutter und Tochter entflohen sind. „Wir haben ständig das Pfeifen der Raketen und die Einschläge gehört. 20 Minuten, bevor wir aufgebrochen sind, ist eine Rakete in unserem Nachbarhaus eingeschlagen. Drei Stockwerke völlig ausgebrannt“. Das Leid, die Angst und das Elend, die Sorge um den Mann und den Vater, sind hier an der Außenhaut des Krieges mit einem Mal greifbar - und können doch wieder nur medial vermittelt werden.
Tatjana und ihre Tochter haben kein Ziel, keine Ahnung, wo es sie hin verschlägt, nur bitte nicht zu weit weg von der Ukraine. Das sagen hier fast alle, die weg und doch wieder so schnell wie möglich zurückwollen.
Fünf Familien aus Donezk - Väter und Söhne fehlen
Das sagt auch Victoria Danylenko. Sie und ihr 16-jähriger Sohn Dmytro sind vor mehr als zwei Tagen aus einer Kleinstadt im umkämpften Donezk aufgebrochen, aber sie sind nicht allein. Fünf Familien, denen es gelungen ist, zu insgesamt 16 auf der Flucht zusammenzubleiben und die allesamt von einer Kirchengemeinde in Krakau erwartet werden. Alle, bis auf die Väter und die erwachsenen Söhne. „Wir würden am liebsten morgen zurückkehren, aber ich glaube nicht daran“, sagt die Mutter. Dmytro widerspricht aus Sicht der Jüngeren vorsichtig: „Wir wissen nicht, ob wir überhaupt zurückkehren wollen.“
Drei Stunden später, um 11.30 Uhr ist Jörg mit dem Lkw angekommen. Ein Einkaufs- und Logistikzentrum am Autobahngrenzübergang Korczowa ist zu einem riesigen Umschlagplatz für die Hilfe umfunktioniert worden, die die Menschen in der Ukraine erreichen soll. Die Gänge des Einkaufszentrums sind jetzt Feldbettenlager. Vor allem für Ukrainer, die hierher gekommen sind, um die Versorgung ihrer Landsleute in den umkämpften Städten zu gewährleisten - in der Sortierung dieses Krieges also die Kämpfer und die Alten.
Pro Tag werden 30-40 Transporter umgeschlagen
Juriy Tscherniesky nimmt den Mainzer Hilfskonvoi in Empfang. Er ist unter den staatlich registrierten „Volunteers“ einer von denen, die hier von morgens bis abends koordinieren und die Verantwortung tragen. Mit drei weiteren Kollegen teilt er sich die Aufgabe. Ein Dutzend Helfer stehen zum Umladen bereit, sobald der erste Transporter an die Ladekante des 40-Tonners heranfährt. Wer den Mittvierziger nach den jüngsten Kriegsgeschehnissen fragt, schaut in das Gesicht eines Jungen, der sich ertappt fühlt: „Wir arbeiten hier rund um die Uhr - ich komme nicht einmal mehr dazu, die Nachrichten zu verfolgen.“
30 bis 40 Transporter schlägt seine Truppe hier jeden Tag um. Sie kommen vor allem aus Polen, Deutschland, Holland, Tschechien und Großbritannien. Das hier ist heute der erste 40-Tonner. In eineinhalb Stunden sind hunderte von Kisten auf vier Transporter umgeladen. „Wir bringen eure Sachen dahin, wo sie gebraucht werden“, verspricht Juriy beim Quittieren der Lieferung. Er meint die umkämpften Städte, vor allem die größten: Kiew und Charkiw. Wenn jeweils zwei Fahrer die Cockpits der Transporter besteigen, fahren sie mitten hinein in den Krieg und setzen alles daran, die so dringend erwarteten Güter für die Schutzbunker und die Krankenhäuser auch mitten in die Ziele der Zerstörung zu bringen. Welche Wege sie nehmen, wie sie in die Städte hineinkommen, muss notgedrungen geheim bleiben.
Bereits am Freitag kamen die ersten Spenden an der Grenze an:
Material für den nächsten Transporter schon bereit
Juriy ist auch der Ansprechpartner für die nächsten Transporte, die die Mainzer auf den Weg bringen werden. Material für einen weiteren 40-Tonner ist schon zusammengestellt, aus Sachspenden - keine Kleidung! - und den noch sinnvoller einsetzbaren Geldspenden. Für einen Sondertransport allein zur Versorgung der Krankenhäuser in Kiew und Charkiw soll am Montag ein 18-Tonner starten. Allein die Universitätsmedizin Mainz hat dafür zwölf Paletten mit Verbandszeug, Schmerzmitteln, Infusionen, Antibiotika, Desinfektionsmitteln und anderen Krankenhausgütern gespendet.
Juriy ist sich bewusst, welche Verantwortung sie hier am Umschlagplatz der Humanität haben. Er bedankt sich zum wiederholten Mal und betont, wie wichtig es für die Menschen im Kriegsgebiet ist, dass sie nicht vergessen und mit dem Nötigsten versorgt werden. Bei der Abfahrt entschuldigt er sich, dass er und sein Team nicht für ihr Land kämpfen und nur hier ihren Dienst tun. Die perverse Logik des Krieges macht selbst vor denen nicht halt, die seine Grausamkeit lindern wollen.
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