Gendern wird immer emotional diskutiert – und selten gibt es zwischen den Lagern Konsens. Die VRM will künftig dennoch eine Brücke schlagen.
MAINZ / WIESBADEN. Sprache hat sich immer verändert. Mit der Zeit schleift der Gebrauch die Regeln. Neue Generationen prägen ihren Jargon, neue Techniken und Trends setzen bislang unbekannte Begriffe. Manches bleibt, manches verschwindet. Manchmal gibt es Widerstand. Aber so viel Polarisierung und Spaltung wie beim Thema Gendern ist doch selten.
Die VRM hat sich mit ihren Publikationen lange auf den Standpunkt zurückgezogen: Wörter mit Doppelpunkt, Schrägstrich, Unterstrich, Binnen-I aufzubrechen - das lassen wir sein. Sowas schafft orthografische Stolperstellen, unterbricht den Lesefluss, ist stilistisch wie ästhetisch eine Zumutung und polarisiert das Publikum. Und gegen das generische Maskulinum, lieber Leser, kann man ja viel sagen, aber es ist erprobt, kurz, knapp und daher ungemein praktisch. Die liebe Leserin muss sich halt mitgemeint fühlen. Ging doch immer gut. Finden viele aber nicht mehr ganz so toll in Zeiten, da allenthalben Wert darauf gelegt wird, Vielfalt und Verschiedenheit sichtbar zu machen.
Die Debatte über unsere Sprache läuft also dynamisch. Als Medienleute berichten wir über die Debatte, sind aber auch unweigerlich Teil dieser Dynamik. Deshalb wollen wir ausloten, in welchen Sprach-Räume wir uns wie weit bewegen können, sollen und wollen. Der Doppelpunkt, liebe Leser:innen, kann Ihnen nun also hin und wieder begegnen. Nicht als verpflichtende Sprachregelung, aber als Möglichkeit. Eine Arbeitsgruppe aus sieben Kolleg:innen verschiedener Abteilungen und Altersgruppen hat sich seit einem halben Jahr immer wieder mit dem Thema befasst. Ihr Ergebnis: Wir setzen auf Gender-Sensibilität und öffnen Sprach-Räume, in denen sich Leserinnen und Leser orientieren können und wiederfinden sollen.
Akzeptanz fürs Gendern ist noch überschaubar
Dabei erscheint klar: Die Akzeptanz für Genderformen in der Gesellschaft ist Umfragen zufolge noch überschaubar – in der jüngeren Generation etwas größer, bei Älteren kleiner, bei Frauen mehr, bei Männern weniger. Und wenn es gar darum geht, das binäre Geschlechterdenken von Mann und Frau durch obskure Formen wie „Schülx“ oder „Lehrx“ zu überwinden, verstehen viele ohnehin nur noch „Bahnhof“.
Sprache ist eben eine sehr persönlich, ja intime Sache. Man nimmt sie beim Schreiben in die Hand, beim Reden in den Mund, braucht sie ständig. So gesehen, ist Sprache eben unser wichtigstes Lebensmittel. Manche Menschen mögen sich gar sowas wie ein Reinheitsgebot für ihre Sprache wünschen. Und viele reagieren allergisch, wenn die Rezeptur geändert wird. Vor allem, wenn die sprachliche Veränderung nicht nur eine kurzlebige Mode, sondern eine tiefgreifende Weltanschauung ausdrückt. Das aber ist nun beim Gendern sicher der Fall.
Über die Hochschulen hat diese Denkschule in Behörden und Kultureinrichtungen Einzug gehalten, sie findet sich - je nach progressiver oder traditionalistischer Ausrichtung - auch in der Kommunikation von Parteien. Viele Institutionen verfassen gegenderte Texte, in vielen Redebeiträgen wird die inklusive Form als kurze Pause, als Gender-Gap, artikuliert. Viele Gastbeiträge und Leserbriefe verwenden Genderformen, denn sie sind ja ein Statement. Da positionieren sich Sprecherinnen und Autoren. Wie ja auch jeder seinen Sprach-Standpunkt ideologisch oder ästhetisch markiert, der weiter aufs generische Maskulinum setzt. So oder so: Dem Gendern entgeht man nicht.
Als Medium kann man die eine oder andere Form denn auch schlicht nicht aussparen oder aussperren. Deshalb werden wir die Genderform in Leserbriefen, Interviews und Gastbeiträgen zulassen. Sie wegzunehmen hieße streng genommen, den Sprecher oder die Autorin in einem zentralen Ausdruck der Weltwahrnehmung zu beschneiden. Um nun im Schriftbild keine Sonderzeichen-Verwirrung zu erzeugen, setzen wir hier einheitlich auf den Doppelpunkt als Gender-Hinweis.
Da die Praxis des Genderns aber nicht nur von außen auf unsere Medien einwirkt, wird auch in Meinungsbeiträgen wie Kommentar und Glosse der Doppelpunkt künftig zu finden sein. Solche Formate, in denen eine subjektive Sicht zum Ausdruck kommt, sollen nicht länger verschlossen sein für das Gendern. Mit Doppelpunkt geht es jetzt, muss aber natürlich nicht. Schließlich gibt es auch unter Autor:innen und Redakteur:innen Anhänger und Anhängerinnen dieser oder jener Sprach- und Weltanschauung.
Das Gros der Texte aber betrifft diese orthografische Öffnung nicht. Da, wo wir journalistisch berichten, verzichten wir weiterhin auf Genderzeichen. Es gibt ja auch viele andere Möglichkeiten, gendersensibel zu formulieren, ohne Sonderzeichen im Text zu verstreuen. Vorneweg Doppelformen, liebe Leserinnen und Leser. Wenn es kürzer sein muss – und in der Zeitung ist das ja oft der Fall – geht auch die Partizipialform. An die „Studierenden“ haben sich viele ja schon gewöhnt, wobei die Formulierung grammatikalisch unsauber ist, denn der Student ist ja nur Studierender, wenn er gerade studiert. Und soweit, dass wir Sie, liebe Leserinnen und Leser als „liebe Lesende“ anreden, sind wir auch noch nicht. Aber man kann ja auch mal von der Leserschaft sprechen, vom Personal, von den Lehrkräften, vom Team.
Es gibt mannigfache Möglichkeiten, genderneutral zu formulieren. Wir legen dazu in unseren Redaktionen keine Vorschriften fest, aber wir wollen im Kollegium unser aller Sprachbewusstsein schulen und schärfen. Es ist für Profis des Wortes ja immer gut, wenn sie nicht nur inhaltlich, sondern auch formal durchdacht schreiben. Die Diskussion darüber wird unseren Alltag begleiten, sie wird, was das Gendern betrifft, so schnell nicht abgeschlossen sein. Und ganz generell endet sie für uns Medienleute ja ohnehin nie, denn die Entwicklung der Sprache kommt schließlich auch nie zu einem Abschluss.