Jens Spahn könnte Kanzler werden, weil er sich und andere begeistert. Michael Bröcker hat eine Biografie über den 38-jährigen Gesundheitsminister veröffentlicht.
Von Reinhard Breidenbach
Leitung Politikredaktion, Chefreporter
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
BERLIN - Ulla Spahn sagt: „Der ist mir viel zu schnell groß geworden.“ Sie meint ihren Sohn Jens. Sehr jung, 38. Katholisch. Homosexuell. Sehr konservativ – behaupten viele, auch wenn er für die „Ehe für alle“ stimmt. Bundesgesundheitsminister. Beim Deutschlandtag der Jungen Union am 7. Oktober 2018 hält er eine flammende Rede: „Ich bin überzeugt, das Beste kommt noch.“ Riesenapplaus. Er meint eigentlich „der Beste“. Er meint sich. Er meint es ernst. Er meint es nicht böse. Er will Kanzler werden.
Dass er Kanzler kann, trauen ihm viele zu. Andere wiederum meinen, ihm sei alles zuzutrauen. Ob es was wird mit der Kanzlerschaft, hängt von vielen Faktoren ab. Unter anderem von Annegret Kramp-Karrenbauer, Kampfname AKK, der Lieblingsnachfolgerin Merkels.
Das Vertrauen der Kanzlerin hat Spahn nicht, sie will ihn nicht
AKK sagt über Spahn: „Ein engagierter Kollege im Präsidium, wir sind unterschiedliche Charaktere und Temperamente.“ Das ist eisig. Merkel sagt über Spahn: „Er ist hoch intelligent, aber demagogisch veranlagt.“ Heißt: Sie will ihn nicht. Sie traut ihm nicht. Nach der Bundestagswahl 2017 macht sie ihn dennoch zum Minister, weil der Erneuerungsdruck in der Partei extrem hoch ist, weil Spahn weite Teile der Basis mobilisieren kann, und weil sie ihn im Kabinett eher unter Kontrolle hat. All das ist Teil des Psychogramms, das Michael Bröcker, Chefredakteur der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf, in seinem Buch „Jens Spahn. Die Biografie“ liefert. Akribisch erarbeitet, kundig bis in kleinste aber wichtige Details, auf hohem sprachlichem und intellektuellem Niveau, den Leser fordernd, spannend.
DAS BUCH ZU SPAHN
Michael Bröcker, geboren 1977 in Münster, Chefredakteuer der „Rheinischen Post“, ist Autor des Buchs „Jens Spahn. Die Biografie“ (Verlag: Herder). „Jetzt schon eine Biografie?“, fragt Bröcker selbst, und antwortet: „Gerade jetzt.“
Geboren wird Spahn in Ahaus-Ottenstein, Münsterland, 3700 Einwohner. Heile Welt, aber dass Spahn homosexuell ist, löst dort dennoch keine Unruhen aus. Gemerkt habe er es irgendwann daran, dass ihn in den Kaufhaus-Katalogen Männer-Models mehr interessierten als Damen-Dessous, so schildert er es. In der Schule: ein Streber, zum Abhängen im Park bringt er Latein-Vokabeln mit. Ein Gruppenmensch, kein Kumpeltyp. In der Katholischen Jungen Gemeinde: Alphawolf, frühes Faible fürs Rampenlicht, er ist Messdiener, sagt später: „Die Katholische Kirche ist großes Kino, deshalb mag ich die ja.“
Seine Karriere als genialer Netzwerker beginnt früh und gipfelt während der Berliner Parlamentsjahre in legendären Nikolauspartys in seiner Wohnung, bei denen sich Top-Leute aus Politik, Medien und Gesellschaft tummeln. Die Empfänge würden auch „zum Zentrum einer einflussreichen schwulen Community“, schreibt Biograf Bröcker.
„Dickköpfig“, „witzig“, „entspannter Typ“ lauten Attribute, die ihm Vertraute in den Anfangsjahren zuschreiben. In Diskussionen sei er nicht nachtragend, liebe provokative Thesen, die jedenfalls das Thema voranbringen. Manchmal sei er ungeduldig und „überfahre“ Leute.
Mit 17 erregt er Aufsehen durch einen Leserbrief in der Lokalzeitung: ein flammendes Plädoyer für das atomare Zwischenlager Ahaus. Früh begegnet er dem Vorwurf der Arroganz. Er will Kreisvorsitzender werden, zieht Strippen, geht durch Stahlbäder – anders kann man die kommunalpolitischen Gemetzel in der Tiefe des Münsterlandes, wie Bröcker sie schildert, nicht bezeichnen. Es gelingt Spahn, überall Getreue zu platzieren, die ihm bis heute helfen. 2002 zieht er mit 48,2 Prozent als jüngster direkt gewählter Abgeordneter in den Bundestag ein. Und schaut strategisch, wo vier Jahre darauf Posten in wichtigen Ausschüssen durch Altersfluktuation frei werden.
Spahns Taktik: kontrollierte Distanz zu Merkel, harte Provokation auf Parteitagen, wo er sich schon mal an Minister Hermann Gröhe vorbei ins Präsidium hievt, aber keine Revolution. Vorbild und Lehrmeister: Wolfgang Schäuble.
Politisch sehr nahe fühlt sich Spahn auch dem erzkonservativen österreichischen Superjungstar und Kanzler Sebastian Kurz (32). Und der deutsche Jungstar hat keinerlei Scheu, sich mit Beratern Trumps so diskret zu treffen, dass es bestimmte Zeitungen wissen, nicht aber die eigenen Parteifreunde. Obwohl er Gesundheitsminister ist und auf diesem Feld seit zwölf Jahren heimisch: Spahns Schicksalsthema ist das Schicksalsthema der Union und der Republik: die Flüchtlingspolitik. Da argumentiert er kompromisslos.
Spahn will keine Ikone der Schwulenbewegung sein
In der „Neuen Zürcher Zeitung“ klagt er, durch „das Chaos in der Flüchtlingsfrage“ habe die Reputation der Politik gelitten, die Handlungsfähigkeit des Staates „war oft nicht mehr ausreichend gegeben“. Die Polit-Szene bebt. Der schwule Grünen-Politiker Volker Beck kritisiert: Spahn habe als Schwuler Ausgrenzung erfahren und müsse deshalb für Minderheiten wie Flüchtlinge mehr Empathie zeigen. Aber Spahn will nicht Ikone der Schwulenbewegung sein und schon gar nicht Ausgegrenzter.
Spahns Skepsis gegenüber muslimischen Flüchtlingen sitze tief und sei durch persönliche Erfahrungen verstärkt worden, so Biograf Bröcker. In Mannheim und Berlin seien Spahn und dessen Ehemann von jungen Migranten als „Schwanzlutscher“ beschimpft worden.
Bröcker urteilt: „Er ist aus Überzeugung Hardliner in der Integrationspolitik. Aber er weiß auch, dass seine Vorstöße populär sind.“ Über sich selbst sagt Spahn: „Bekannt bin ich jetzt, beliebt muss ich noch werden.“