Seit seiner frühen Jugend ist der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke immer wieder straffällig geworden. Widersprüche prägen das Leben von Stephan Ernst.
WIESBADEN. Was ist das für ein Mensch, der zugegeben hat, den Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke umgebracht zu haben? Mit insgesamt 37 Einträgen ist der Name des heute 45 Jahre alten Stephan Ernst im Auskunftssystem der Polizei gespeichert.
Bei den Ersten ging es nur um Sachbeschädigung. Doch schon in jungen Jahren kam versuchter Totschlag hinzu. Immer wieder war er wegen Beleidigungen aufgefallen, wegen Körperverletzung und zuletzt am 1. Mai 2009 wegen schweren Landfriedensbruchs. Da führten ihn die Sicherheitsbehörden längst schon als gewaltbereiten Rechtsextremisten.
Ein Leben geprägt von Widersprüchen
Stephan Ernst, der in Hohenstein-Holzhausen (Rheingau-Taunus) seine Jugend verbracht hat, scheint eine merkwürdige, gespaltene Person zu sein. Einer, der in seinem Nachbarort Aarbergen-Michelbach Feuer legte in einem zumeist von Türken bewohnten Mehrfamilienhaus. Einer, der auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofes einen türkischen Imam niederstach und lebensgefährlich verletzte. Einer, der vor einer Flüchtlingsunterkunft in Hohenstein-Steckenroth eine Rohrbombe platzierte und das mit ausländerfeindlichen Motiven begründete.
Dann aber wiederum auch einer, der in der Verhandlung, die es deshalb vor Gericht gegeben hat, von seiner Freundschaft zu einem jungen Türken erzählt. Von seiner Enttäuschung, dass diese Freundschaft abgeflaut sei. Und dass er sich deshalb immer wieder in Erinnerung rief, bloß nicht mehr anhänglich sein zu wollen.
Kollegen sind schockiert, als sie von der Festnahme erfahren
Diese Widersprüchlichkeit ist ein Muster in seinem Leben, das sich wiederholt: Als er nach Verbüßen einer langjährigen Haftstrafe nach Kassel gezogen war, hatte er dort einen Job angenommen. Nachdem er nun in Untersuchungshaft kam, weil er des Mordes an Walter Lübcke verdächtigt wurde, sorgte das bei seinem Arbeitskollegen für Erstaunen. Sie beschrieben ihn einem Journalisten der Hessisch-Niedersächsischen-Allgemeinen als „nett und zurückhaltend“: Sein bester Kumpel sei ein Iraner gewesen.
Der Rechtsextremist hat ausgesagt, den Mord an Walter Lübcke alleine begangen zu haben. In einem psychiatrischen Gutachten, das Mitte der 90er Jahre über ihn erstellt worden war, hieß es, er sehe sich „als unverstandener Außenseiter“, der ein auffälliges Defizit in der Urteils- und Einsichtsfähigkeit habe.
Offenbar ist er auch ein Mensch, der sich leicht beeinflussen lässt. In Kassel bewegte er sich in der rechtsextremen Szene. Die hat Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) jetzt als „sehr heterogen“ beschrieben: Es gebe in Nordhessen ein Sammelsurium an Kameradschaften, völkischen Gruppierungen und Neuer Rechten. Die nordhessischen Neonazis seien zwar von einem geringen Organisationsgrad gekennzeichnet. Dafür aber von hoher Gewaltbereitschaft.
Lübcke galt unter Neonazis als Reizfigur
Ihnen galt der Kasseler Regierungspräsident als „Reizfigur“, so hat das in der Sitzung des Innenausschusses im hessischen Landtages Bundesanwalt Thomas Beck formuliert. Lübcke hatte 2015 die Aufnahme von Flüchtlingen verteidigt.
Und die Flüchtlingskrise hat dazu geführt, dass die AfD bei Wahlen von Erfolg zu Erfolg eilt. Auch das mag Stephan Ernst zu seiner Tat angespornt haben.
Auch vor 30 Jahren war das gesellschaftliche Klima ganz ähnlich gewesen: Den Brand in dem vor allem von Türken bewohnten Haus in Aarbergen hatte er gelegt, als die rechtsextremen Republikaner ihren Höhenflug antraten. Das „Problem mit den Ausländern“, das in der öffentlichen Debatte auch damals eine Rolle gespielt hatte, hatte dazu geführt, dass bei der Kreistagswahl im Rheingau-Taunus 17 Prozent für die „Reps“stimmten.
Von Christoph Cuntz