Halbzeit beim WM-Zehnkampf in Eugene. Wie stehen die Chancen von Niklas Kaul vom USC Mainz auf Edelmetall? Wir haben mal nachgerechnet.
EUGENE. Niklas Kaul gab es sich gewohnt zurückhaltend. „Ich schaue jetzt erst mal, wie ich schlafe“, sagte der 24-jährige Zehnkämpfer des USC Mainz nach dem ersten Wettkampftag der Weltmeisterschaften in Eugene (USA). „Am Ende kann es eine Punktzahl werden, mit der ich zufrieden bin. Aber es ist noch ein weiter Weg.“ Der Titelverteidiger zeigte in den ersten fünf Disziplinen extreme Schwankungen, war letztlich mit seinen 4147 Punkten aber zufrieden - zumal er den Tag mit einem starken 400-Meter-Lauf abschloss. Entsprechend viel Selbstvertrauen tankte. Und schon in Doha vor drei Jahren bewies Kaul: Am zweiten Tag rollt er das Feld von hinten auf. Bei seinem WM-Coup hatte er gerade mal 17 Zähler mehr zum gleichen Zeitpunkt, stürmte von Rang 17 noch auf den Thron. Wie stehen die Chancen diesmal für den aktuell 16.-Platzierten? Wir haben durchgerechnet.
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Eins vorneweg: Nach dem dramatischen Ausscheiden von Olympiasieger und Topfavorit Damian Warner ist das Rennen plötzlich völlig offen. Der Kanadier verletzte sich beim 400-Meter-Lauf am linken Oberschenkel, musste unter Schmerzen aufgeben. Das zeigt eben auch: Ein Zehnkampf ist lang, sehr lang. Mitfavoriten können jederzeit ausscheiden. Bei den Olympischen Spielen in Tokio gehörte Kaul selbst zu den Unglücksraben, zog sich im Hochsprung eine Fußverletzung zu und stieg während des 400-Meter-Rennens aus. In Doha erwischte es Weltrekordhalter Kevin Mayer, damals musste der Franzose aufgeben.
Gold-Favorit ist nun Mayer
Mayer ist in Eugene nun der Favorit auf Gold. Zur Einschätzung: Mayers Bestmarke liegt bei 9126 Punkten (2018), die von Kaul bei 8691 (2019). Beide Leistungen liegen aber schon länger zurück. Mayer hat 2022 noch keinen kompletten Zehnkampf absolviert. Der 30-Jährige ist zwar aktuell mit 4372 Zählern Sechster, scheint aber nicht in Topform zu sein. Genauso wie Kaul sprach er nach dem ersten Tag davon, dass er jedenfalls mit einem guten Gefühl in den Sonntag gehe. Über die 110-Meter-Hürden (18.35 Uhr deutscher Zeit) ist Mayer (Bestzeit: 13,54 Sekunden, wären 1151 Punkte) im Normalfall deutlich stärker als Kaul (14,34; 1006). Der Mainzer hat aber gerade in dieser Disziplin zugelegt, vor drei Wochen jene neue Bestleistung aufgestellt. Der derzeit führende Ayden Owens-Delerme (4606 Punkte bisher) aus Puerto Rico ist zwar ebenfalls bärenstark über die Hürden (13,76), mit dem Diskus und Speer sowie im Stabhochsprung aber schwächer als Kaul und Mayer. Der aktuelle Zweite Pierce LePage (Kanada, 14,29) und der drittplatzierte Zachery Ziemek (USA, 14,05) sind im Normalfall einen Tick schneller als Kaul unterwegs.
Im Diskuswurf (19.40 Uhr) kam Mayer dieses Jahr auf 49,30 Meter, Kaul auf 47,13. In Doha schaffte der USC-Athlet aber ebenfalls 49,20 Meter. LePage (51,48) und Ziemek (51,64) könnten ihren Vorsprung vor allem auf Kaul hier weiter vergrößern. In dieser Größenordnung machen zwei Meter rund 30 Punkte aus. Zur Einordnung: Schon jetzt liegen die beiden Nordamerikaner rund 300 Zähler vor dem Mainzer. LePage hat 4465 Punkte, Ziemek 4469.
Für eine Medaille muss Kaul Bestleistungen zeigen
Im Stabhochsprung (21:15 Uhr) sprang Mayer schon mal 5,45 Meter. Das wären 1116 Punkte. Kauls Bestleistung liegt bei 5,00 Meter (sind 994 Zähler). Gerade in dieser Disziplin kann extrem viel passieren. Ein „Salto nullo“ verändert alles. Und wie gesagt: Mayer ist seit Monaten nicht unter Wetkkampfbedingungen gesprungen. Ziemek (5,55) ist theoretisch noch besser als Mayer, LePage (5,25) liegt knapp drunter.
Nun kommt die Zeit von Kaul. Im Speerwerfen (2:05 Uhr) ist er eigentlich in einer anderen Liga unterwegs. In Doha kam er auf 79,05 Meter (1088 Punkte) - damit wäre er in Eugene bei den Spezialisten unter die Top 10 gekommen. Zum Vergleich: Ziemeks Bestleistung liegt bei 60,92 Meter (831), die von Mayer bei 73,90. LePage kam noch nie weiter als 58,24 Meter (793), Owens-Delerme als 56,07. Kaul könnte hier also gleich mehrere hundert Punkte auf seine Konkurrenz gutmachen. Aber: Nach seiner Ellbogenverletzung kam der 24-Jährige schon länger nicht mehr so weit, seine Saisonbestleistung beträgt „nur“ 69,29 Meter. Will Kaul also wirklich um die Medaillen mitmischen, muss er hier an frühere Bestmarken anknüpfen.
Kaul ist ebenfalls ein exzellenter 1500-Meter-Läufer (4.20 Uhr). In Doha benötigte er nur 4:15,70 Minuten (681 Punkte), dieses Leistungsvermögen bestätigte er mit 4:16,31 dieses Jahr schon. Auch Mayer hat eine solche Zeit in den Beinen. Ziemek wiederum war noch nie schneller als 4:38 Minuten (462), LePage als 4:31. Nun kommt Owens-Delerme wieder ins Spiel: Der Puerto-Ricaner lief bereits 4:13. Bleibt die Frage: Wer hat nach zwei intensiven Tagen noch genügend Körner? Von Kaul weiß man: Er kann sich seine Kraft sehr gut einteilen, ist mental zudem sehr stark.
Fazit: Im Normalfall sollte Mayer der Titel nicht zu nehmen sein. Dahinter dürften eigentlich Ziemek und LePage die besseren Karten haben. Und nicht zu vergessen: Auch der Australier Ashley Moloney kann noch munter mitmischen. Der 22-Jährige, der ebenfalls seinen ersten Zehnkampf in 2022 absolviert, ist Weltranglisten-Dritter, hat aktuell 4378 Punkte auf dem Konto. Oder überrascht gar ein ganz anderer? Und Kaul? Der 24-Jährige muss auf Ausrutscher der Konkurrenten hoffen und überall in den Bereich seiner Bestleistungen kommen, dann kann er nach einer Medaille greifen. Es muss aber eben alles, wirklich alles passen. Realistisch erscheint ein Top-6-Rang. Immerhin: Er fühlt sich gut, der Fuß hält. Und: Kaul macht sich keinen Druck, schließlich will er den Fokus auf die Heim-EM in drei Wochen in München legen. Auch das könnte ein Vorteil sein. Spannend wird es in jedem Fall.